Erich Hackl: Gegen die "Ich-Ich-Ich-Literatur"

Erich Hackl über Begegnungen: "Ein Geschenk, ein Reichtum, den ich nicht erhofft hatte“
Er schrieb "Abschied von Sidonie". Einer der wichtigsten österreichischen Gegenwartsautoren wird 60.

Erich Hackl gehört seit "Auroras Anlass" (1987) zu den großen Erzählern Österreichs. Romane wie "Abschied von Sidonie" sind wahre Geschichten über Vertriebene und Vergessene. Hackl ist feinfühliger Chronist, unermüdlicher Kämpfer für das Bewusstsein für Zeitgeschichte und literarischer Übersetzer aus dem Spanischen.

KURIER: "Eines Tages sah sich Aurora Rodríguez veranlasst, ihre Tochter zu töten." Der erste Satz ihres ersten Romans. Können Sie sich erinnern, wie Sie ihn geschrieben haben?

Erich Hackl: Nein, das ist zu lange her.

Ihre Bücher sind mittlerweile Schullektüre. Hat man da als Schriftsteller das Gefühl, man hat "es" geschafft?

Im literarischen Betrieb weniger. Da wird "Schullektüre" als Vorwurf verstanden, als didaktisch bemühte und somit zweitklassige Literatur. Was mich außerdem am Anfang misstrauisch gemacht hat, war der Gedanke daran, dass ein schlechter Lehrer die Lektüre auch verderben kann. Ich konnte jahrelang nicht Zweig lesen, weil wir in der Schule von einem autoritären Lehrer ein ganzes Jahr mit den "Sternstunden der Menschheit" traktiert wurden.

Sie waren ja selbst einige Zeit Lehrer. Hätten Sie sich vorstellen können, das zu bleiben?

Durchaus. Das Unterrichten war mir ein Anliegen. Aber dann habe ich die beiden Tätigkeiten nicht mehr unter einen Hut gebracht. Schreiben wie Unterrichten, das sind Berufe, die einen nie loslassen. Dazu kommt, dass ich wegen des dokumentarischen Gehalts meiner Erzählungen viel Zeit brauche. Oft abwesend bin.

Alle Ihre Bücher haben einen realen Kern. Wie finden Sie Ihre Themen?

Durch mein Interesse an der Zeitgeschichte. Ich habe mit 17 angefangen, eine Geschichte aus dem Widerstand gegen das Naziregime zu recherchieren, und dabei einen Überlebenden in Steyr kennengelernt, Franz Draber, der zufällig Nachbar von Sidonie Adlersburgs Ziehbruder war. So bin ich auf deren Geschichte ("Abschied von Sidonie", Anm.) gestoßen. Es gibt Fäden, die sich von einer Geschichte zur anderen ziehen.

Wie groß ist der künstlerische Spielraum im Korsett der Faktentreue?

Sehr klein, weil ich mir das Erfinden versagen muss. Nur da, wo es keine Fakten gibt, darf ich behutsam meine Fantasie einsetzen. Erfinden ist Freiheit, in meinem Fall aber auch Not. Umgekehrt stoße ich durch die Recherchen auf Dinge, die mir gar nicht einfallen würden. Weil sie so ungewöhnlich sind, unvorstellbar eigentlich.

Mit Ihrem 2013 erschienenen Buch über Ihre Mutter ("Dieses Buch gehört meiner Mutter", Anm.) haben Sie Ihr bisher persönlichstes geschrieben.

Ja, aber die Arbeitsweise war nicht anders als sonst. Ich habe auch mit meinen Eltern Interviews geführt, wie ich das immer mache.

Sie haben die ersten Interviews vor vierzig Jahren geführt.

Ich habe früh zu schreiben begonnen, und wenn man jung ist: worüber schreibt man dann? Über das, was man kennt: Kleinstadt, Schule, Freunde, Verwandte. Dass ich diese Familiengeschichte erst so spät aufgeschrieben habe, ist wohl auf mein Unvermögen zurückzuführen, die angemessene Darstellungsweise zu finden.

Erich Hackl: Gegen die "Ich-Ich-Ich-Literatur"
Andere Schriftsteller kommen nie über dieses Persönliche hinaus und erzählen immer nur von sich selbst. Ist es vorstellbar, dass Sie einmal etwas Autobiografisches schreiben?

Vielleicht über Kindheit und Jugend. Aber auch da würden mich die anderen Menschen mehr interessieren. Ich mag diese "Ich-Ich-Ich"-Literatur nicht, so wie ich auch sonst Menschen immer weniger ertrage, die nur sich selbst gelten lassen. Eine Haltung, die der Neoliberalismus erzwingt, mit seiner auf Vereinzelung und Egoismus abzielenden Ideologie.

Stichwort fremde Erfahrung: Wie erwachte in Ihnen als Schüler aus Steyr das Interesse für Spanisch?

Ich war als Zwölfjähriger ein fanatischer Kurzwellenhörer. Da konnte man die ganze Welt hören. Das hat auch meinen politischen Horizont erweitert. Ich hörte Sender aus Russland, Südamerika und Japan. Das hat mich in die Welt gebracht.

Sie haben einige Jahre in Spanien gelebt. War die Rückkehr nach Österreich schwierig?

Die Rückkehr wäre nicht schwer gewesen, wenn ich nicht gleich in unerwartet autoritären Strukturen unterrichten hätte müssen. Ich wäre gern wieder zurückgegangen. Familiäre Umstände haben mich gehalten. Inzwischen verbringe ich einen Teil des Jahres in Madrid.

Ein Wort zu Ihrem historischen Engagement: Haben Sie das Gefühl, dass das Bewusstsein für Zeitgeschichte zurückgeht?

Nein, ich habe, wenn ich zum Beispiel in Schulen eingeladen bin, das Gefühl, dass Schüler souverän damit umgehen. Interessiert sind, die Geschichte als Teil ihrer Gegenwart ansehen. Gerade in Österreich. Vielleicht, weil bestimmte Fragen immer noch aktuell sind – die Zerstörung der Demokratie 1933, die Niederlage der Arbeiter 1934, ohne die die Annexion Österreichs anders verlaufen wäre. Der so ungern erinnerte, weil vor allem von Kommunisten geführte Widerstandskampf gegen die Naziherrschaft. Ohne das Wissen darum ist der Kampf gegen die Miserabilität der Gegenwart nicht zu führen. Weil man sich nicht nur der gegenwärtigen Gefährten versichern will, sondern auch derer, die einem vorausgegangen sind.

Ist die Gegenwart so miserabel?

Allerdings. Der Spätkapitalismus wird, wenn sich kein Widerstand gegen ihn organisiert, in die Katastrophe münden. Die sogenannten Reformen der Austeritätspolitik in Europa sind für jemanden wie mich schrecklich.

Wer ist jemand wie Sie?

Jemand, der an eine soziale Organisation der Gesellschaft glaubt. An eine Gemeinschaft von Gleichen.

Mit welch fröhlicher Miene Sie Ihren Pessimismus ausdrücken.

Nun, das ist der Optimismus des Willens, der Pessimismus der Verstandes, wie es Gramsci ausdrückte. (Antonio Gramsci, Philosph, Anm.)

Sind die Dinge in Ihrem Leben so gekommen, wie Sie sie gern gehabt hätten?

Beruflich ist es mehr gewesen, als ich mir vorgestellt hatte. Und durch das Schreiben sind mir Freundschaften zugewachsen, von den Menschen, über die ich geschrieben habe. Das ist ein Geschenk, ein Reichtum, den ich nicht erhofft hatte.

Erich Hackl: Gegen die "Ich-Ich-Ich-Literatur"
Der Schriftsteller
Erich Hackl (*26. 5.1954 in Steyr, Oberösterreich) studierte Germanistik und Hispanistik.
Er war Lektor für deutsche Sprache in Madrid und Lehrer für Deutsch und Spanisch in Wien. Zu seinen berühmtesten Büchern gehören „Auroras Anlaß“, „Abschied von Sidonie“, „Die Hochzeit von Auschwitz“und „Familie Salzmann“.

Sein jüngstes Buch
„Drei tränenlose Geschichten“ erzählt die Geschichte der Linzer Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig, jene des Lagerfotografen von Auschwitz und jene der Familie Klagsbrunn, die von Floridsdorf bis Rio de Janeiro reicht (Diogenes). Mit Evelyne Polt-Heinzl gab Hackl „Im Kältefieber. Februargeschichten 1934“ heraus (Picus).


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