Elias Canetti: Erschreckend viele Gesichter

Elias Canetti: Erschreckend viele Gesichter
600 seiner Briefe, adressiert auch an Sinowatz und Zilk, begleiten die langsame Karriere des Nobelpreisträgers des Jahres 1981.

Elias Canetti war gefälligst zu verehren.
Fand man etwas von ihm nicht so gelungen, konnte sich  sein Ärger über diese  Frechheit schriftlich niederschlagen. Am Beispiel Hilde Spiel, Essayistin, Romanautorin, Kritikern und eine gute Bekannte Canettis:
Beide hatten den Krieg in London überlebt. In ihrem Haus am Wolfgangsee hat sie Canetti nach dem Krieg  bewirtet.
Als sie es  1970 wagte, die Wiener Erstaufführung von „Hochzeit“ nicht 100-prozentig großartig zu finden – Hilde Spiel hielt ihn für einen großartigen Prosaisten, sein Roman „Die Blendung“ ist ein Geniestreich, aber die Theaterstücke ...  –, jedenfalls schrieb Canetti deshalb am 3.11.1970 an einen anderen Kulturkritiker:
„Sie ist noch viel dümmer, als ich immer annahm. Oder gehört sie zu den Menschen, die der Hass dumm macht?“

Bescheidenheit

Spiel hat sich in Interviews zu revanchieren gewusst.
„Giftspritze“ nannte sie ihn. Monumental eitel, intrigant und so wichtigtuerisch: Obwohl er des Englischen nicht besonders mächtig gewesen sei, habe er seiner Übersetzerin autoritär vorschreiben wollen, wie mit seinem Werk umzugehen ist.
Auch lustig  war Canetti – etwa wenn er sich einerseits in die Nähe von Dante brachte und andererseits Bescheidenheit einforderte.
Der Grazer Schriftsteller Gerhard Roth hat ihm einst in einem Porträt behutsam eine Maske nach der anderen abgenommen: Moralist? Menschenfresser? Doch ein Liebender? Nur ein lächerlicher Mann? Genie?
Das Leben in einer erschreckenden Vielfalt.
„Ich erwarte von Ihnen viel“ ist eine sammlerische Meisterleistung. Die Herausgeber haben 600 Briefen Canettis aus 1932 bis 1994 zusammengetragen, die seine nur langsam in die Gänge gekommene Karriere begleiten.
Briefe adressiert an Adorno, Paul Celan ... Dankesworte an Sinowatz und Zilk.
Briefe, die einen Schleimer zeigen sowie einen  Menschenfreund, sehr zuvorkommend, und dann wieder polternd – man sieht förmlich, wie er zornig den Bleistift wegwirft.
Es soll, wie im Vorwort zu lesen ist, biografischen Voyeurismus „nicht in erster Linie bedienen“. (Schade.) Deshalb geht es in der Auswahl meist um Literatur, den Literaturbetrieb, um Canettis Schreiben. Er lebte schreibend. Die Briefe machen  Annäherung möglich.
Sein erster erhalten gebliebene Brief dürfte an Thomas Mann gegangen sein. Das war 1931. Er schickte ihm das dicke Manuskript der „Blendung“. Nobelpreisträger Thomas Mann nahm sich nicht die Zeit dafür. Genau 50 Jahre später bekam Elias Canetti den Nobelpreis.


Elias Canetti:
„Ich erwarte von Ihnen viel“
Herausgegeben von Sven
Hanuschek und
Kristian
Wachinger.
Hanser Verlag.
864 Seiten.
43,20 Euro.

KURIER-Wertung: ****

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