Eine Stadt frisst ihre Kinder

Eine Stadt frisst ihre Kinder
"Marseille – Eine Stadt im Film": Retrospektive im österreichischen Filmmuseum

Paris gilt als die Stadt der Liebe – und Marseille? Die südfranzösische Hafenstadt zählt derzeit zu den Kulturhauptstädten Europas. Aber welche Rolle spielt Marseille im Kino? Die des „Tatort“? Ist es jene Stadt, in deren Hafen Drogen geschmuggelt werden wie in den berühmten „French Connection“-Krimis? Ist sie prädestinierter Schauplatz einer kriminalistischen Unterwelt, wie in Jacques Derays legendärer Gangster-Hommage „Borsalino“ mit Alain Delon?

Marseille – Eine Stadt im Film“ nennt sich die Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum, die (bis 2. Dezember) diesen Fragen nachgeht. Rund zwanzig Filme – von den Anfängen der Kinematografie bis in Gegenwart – verorten Marseille als Schauplatz.

Schauplatz Hafen

Beinahe alle Filme, die in Marseille spielen, erzählen vom Hafen. Schon die Pioniere des Kinos, die Brüder Lumière, gingen mit ihrer Kamera am „Vieux Port“ (1896) spazieren. Der Künstler László Moholy-Nagy – Professor an der legendären Kunstschule Bauhaus – inszenierte in seinem großartigen Stummfilm-Essay „Impressionen vom alten Marseiller Hafen“ (1929) den Ankerplatz als Umschlagplatz des sozialen Lebens. Buntes bürgerliches Treiben kontrastiert Moholy in effektvollen Montagen mit zerlumpten Kindern und dreckigen Wasserkloaken.

Der Hafen als exotisches Zentrum dominierte die Bühnenstücke des Marseillers Marcel Pagnol, die in ihren Filmversionen „Marius“ (1931) und „Fanny“ (1932) wahre Kassenschlager garantierten. Jean Renoir wiederum, Altmeister des französischen Kinos, folgte einer anderen Tradition: sein Melodram „Toni“ fokussiert – apropos Hafen – auf das Schicksal von Migranten in der Transitstadt Marseille.

Zu einem der hervorragendsten Vertreter des engagierten Kinos der Gegenwart zählt zweifellos Robert Guédiguian. Seit den 80er- Jahren siedelte der in Marseille gebürtige Ausnahmeregisseur fast alle seiner radikal persönlichen Dramen wie „Marius und Jeannette“ (1997) in seiner Heimatstadt an und erzählt mit herzzerreißender Eindringlichkeit vom Schicksal kleiner Arbeiter und Migranten. Auch „La Ville est tranquille“ („Die Stadt frisst ihre Kinder“, 2000) zählt da zweifellos zu den Meisterwerken: Die große Ariane Ascaride kämpft als Mutter einer drogensüchtigen Tochter mit ihrem schwierigen Alltag. Kriminalität, Sucht und Arbeitslosigkeit prägen ihr Leben, das aber nicht unter den Vorzeichen der Tristesse steht, sondern das Leben unbändig bejaht. „La Ville est Tranquille“ zählt zu den großen, herzzerreißenden Erfahrungen, die man im Kino machen kann.

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