Karl Kraus: Der Misanthrop als Familienmensch
Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben, heißt es bei Karl Kraus. Der war bekanntlich ein Misanthrop, der mutterseelenallein in seiner Wohnung saß, tagsüber schlief und nachts an den „Letzten Tagen der Menschheit“ schrieb und die „Journaille“ beschimpfte. Oder war es etwa doch ein wenig anders?
„Wenn jemand mit 25 Jahren als Satiriker auftritt, sich mit der Presse und eigentlich der gesamten deutschsprachigen Gesellschaft anlegt, muss er Maßnahmen setzen, wie das gelingen kann. Eine dieser Maßnahmen war, zu behaupten, er habe kein Privat- und Familienleben“, sagt Kraus-Forscherin Katharina Prager, Kuratorin der Ausstellung „Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben“, die anlässlich des 150. Geburtstags des wohl meist (und meist falsch) zitierten deutschsprachigen Satirikers in der Wienbibliothek im Rathaus zu sehen ist.
Gewissermaßen berufsbedingt also präsentierte sich Kraus als unabhängiger Einzelkämpfer ohne Netzwerk. Er zelebrierte dieses Image auch in Form von Bonmots: „Das Wort ‚Familienbande‘ hat manchmal einen Beigeschmack von Wahrheit.“
Karl Kraus (1874–1936) heiratete nie und hatte keine Kinder, er hielt beides für unvereinbar mit der Existenz eines Schriftstellers, jedoch gab es regelmäßige Zusammenkünfte und nie einen Bruch mit seiner Herkunftsfamilie. Das belegen unter anderem Briefe, Postkarten, von ihm gesammelte Geburts- und Todesanzeigen. Außerdem Bilder seiner Wohnung in der Lothringerstraße, die mit Familienfotos bestückt war. Im Archiv der Wienbibliothek befinden sich 150 Briefe und Postkarten der vielköpfigen Familie an Karl Kraus und 50 von ihm an die Familie, einige davon sind hier nun ausgestellt. Unter anderem eine Karte mit einem nicht unkitschigen Katzenbild, die er, völlig ironiefrei, an seine Schwester Mizzi schickte. Er unterschrieb mit „Muckerl“.
Das Haar der Mutter
Karl Kraus war das jüngste von elf Kindern, ein Bruder war als Baby gestorben. Karl war sensibel und kränklich, hatte zu Mutter Ernestine eine enge Beziehung. Sie starb, als er 17 war, und er bewahrte ihr Haar, ein Blatt von ihrem Grab und ihren letzten Brief in einem Kuvert mit der Aufschrift „Familiensache“ auf. Ein wenig knirschte es zwischen Karl und seinem Vater Jacob, einem einfallsreichen Unternehmer, der, ganz Selfmademan, als Waschmittelvertreter und mit Papiersackerln vermögend wurde.
Kraus’ Mutter stammte aus einer jüdischen Familie aus dem böhmischen Jičín, Jacob Kraus hatte in die Familie eingeheiratet. 1877 übersiedelte man nach Wien. Jacob hätte sich gewünscht, dass auch Sohn Karl wie seine Brüder ins Unternehmen einsteigt. Es nagte an Karl, dass der Vater sein Künstlerdasein nicht begrüßte, keinen „gebildeten Sohn“ wollte. Allerdings unterstützten der Vater und die Brüder ihn zeitlebens finanziell, Letztere erledigten sogar seine Steuerangelegenheiten. Sein Dasein als Herausgeber der Fackel wäre ohne Zuwendungen der Familie nicht möglich gewesen. Darüber hinaus war der Vater dem Künstlersohn durchaus zärtlich zugetan, wie etwa der hier ausgestellte Brief zeigt: „Ich wünsche Dir besten Erfolg, beachte nur daß Du Dir nicht den Magen verdirbst + gib auf alles Acht. Trinke kein Wasser in der Fremde (...).“
Abgesehen davon: Kraus (der sich als „Frauenverehrer“ sah, jedoch „gewissen Argumenten der Frauenverachtung“ zustimmte) wuchs in einer Familie starker Frauenbande auf. Er machte sich über die Frauenbewegung lustig, hielt aber zu seinen Schwestern engen Kontakt. Besonders zur jüngsten, „Lieblingsschwester“ Marie (Mizzi). Auch die anderen Schwestern nahmen regen Anteil an seiner Karriere, so etwa Louise, die sich bei ihm beschwerte, keine aktuelle Ausgabe der Fackel ergattert zu haben: „Lieber Karl, Julius hat sich wiederholt bemüht, in Trafiken die Febernummer der ‚Fackel‘ zu bekommen – erhielt überall die Antwort, dass dieselbe vergriffen sei – Da wir alle Nummern der ‚Fackel‘ besitzen, so möchte ich dich bitten, mir besagte Nummer zu verschaffen (...)“
Nur eine überlebte
Briefe wie diese waren bisher nicht öffentlich zugänglich. Karl Kraus war vor allem Thema der Literaturwissenschaft. Hier wird er erstmals nicht nur als „Geist gegen den Zeitgeist, sondern auch als Kind seiner Zeit“ gezeigt, wie Kuratorin Prager sagt. Man entdeckt hinter dem angeblichen Misanthropen eine liebevolle Familie, die, bis auf eine Schwester, zu Gänze durch den Holocaust ausgelöscht wurde. Ein Entdeckung, die, gemessen an der ansonsten sehr umfassenden Kraus-Forschung, reichlich spät kommt. Warum erst jetzt? „Die Kraus-Forschung hat lange den Text mit der Person gleichgesetzt“, sagt Prager. Kraus habe Barrieren um sein Privatleben, seine Familie und seine religiösen Wandlungen aufgebaut: „Er wollte nicht, dass man da hinschaut. Das wurde ernst genommen und nicht hinterfragt. Mit zunehmender Distanz ist die Krausforschung kritischer geworden und hat sich auch damit befasst.“
Der Kraus-Nachlass ist einer der größten der Wienbibliothek. Bereits 2018 zeigte man einen Teil davon, damals ging es um Kraus in der Ersten Republik. Nun soll Karl Kraus, diese zentrale Figur der europäischen Moderne, als ganze Person erfasst werden.