Karl Kraus: Gegen das langsame Vergessenwerden ankämpfen

Karl Kraus: Gegen das langsame Vergessenwerden ankämpfen
Jens Malte Fischer schrieb 1000 Seiten "Der Widersprecher", um ihm gerecht zu werden.

Wer in den 1980er Jahren im KURIER zu arbeiten begann, bekam Schwierigkeiten, wenn er bestimmte Wörter verwendete. Wie „bräuchte“. Oder „all“. Wörter, die verboten waren.

Chronik-Chef Paul Uccusic (1937 - 2013) schrie, und das war halbernst: „Was soll ich machen, ich hab’ halt den Karl Kraus gelesen!“

Fehlte ein Beistrich, war er gnädiger. Kraus - Foto oben - hingegen hätte dann einen Ausschlag bekommen. Er wollte mit seinen Feuilletons auf Glatzen Locken drehen, bei fehlenden Beistrichen war ihm das unmöglich.

„Bräuchte“ kommt in der von 1899 bis 936 herausgegebenen „Fackel“ tatsächlich nie vor. Aber, Uccusic irrte ausnahmsweise, „all“ gezählte 1.053 Mal (gut, dass es die gesamten Ausgaben mit Suchfunktion auf https://fackel.oeaw.ac.at/ gibt).

Das wichtigtuerische Wort gehört allerdings wirklich in den Weltraum geschossen, wo es – mit großem A – hingehört.

Ende des Ausflugs.

So still

Auf mehr als 1000 Seiten hat der deutsche Literaturwissenschafter Jens Malte Fischer versucht, viele Fragen über den „Widersprecher“ zu beantworten. Über den Sprachkritiker. Polemiker. Besserwisser. Den Journalisten, der die politisch liberale „Neue Freie Presse“ ständig attackierte und völkische Zeitungen in Ruhe ließ.

Den Satiriker und Dramatiker („Die letzten Tage der Menschheit“). Den Lyriker ...

„Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge einen langen Schatten.“

Warum er antisemitische Angriffe unternahm. Warum er so still war, als Hitler seine Diktatur aufbaute.

Wer seine Feinde waren. Seine Anhänger. Seine Frauen. Wo er wohnte, welche Fotografien an den Wänden hingen. Es ist eine sehr umfangreiche Biografie, Jens Malte Fischer geht über vor Wissen, und bestimmt wäre ein Straffen und Kürzen möglich gewesen.

Aber daran teilhaben zu dürfen – in einem Stil, der vor dem Porträtierten Bestand gehabt hätte, ist ein langes intellektuelles Vergnügen. Und ein Ankämpfen dagegen, dass Karl Kraus langsam in Vergessenheit gerät.

 

Jens
Malte Fischer:

„Karl Kraus. Der Widersprecher“
Zsolnay Verlag.
1104 Seiten.
46,30 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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