Helmut Josef Geier, der seit über 30 Jahren als DJ Hell in der Techno- und House-Szene erfolgreich unterwegs ist, setzt mit seinem neuen Album ein Statement: Die Corona-Pandemie hat die Welt zwar noch im Würgegriff, aber bald, ja bald wird sich die Discokugel wieder drehen. Für diesen von vielen sehnlichst erwarteten Moment liefert Hell schon jetzt den passenden Sound: „House Musik Box (Past, Present, No Future)“ heißt das heute, Freitag, erscheinende Opus des 58-jährigen Bayern, mit dem er sich vor den Wegbereitern der elektronischen Musik verbeugt.
KURIER:Ihr neues Album ist zwar voller Dancefloor-Kracher, aber die Musikclubs haben geschlossen. Man könnte daher frech sagen: Gutes Album zur falschen Zeit.
DJ Hell: Besser als schlechtes Album zur richtigen Zeit (lacht). Aber Sie haben natürlich recht. Es ist schlechter Zeitpunkt, weil ich mein Album nicht promoten kann. Die Clubs wurden geschlossen, es gibt keine Festivals. Normalerweise wäre ich mit dem Album circa zwei Jahre lang auf Tour.
Hätten Sie die Veröffentlichung nicht verschieben können?
Das Album war schon Anfang des Jahres fertig. Dann kam im März der erste Lockdown, wir haben verschoben, gewartet, aber es ist bis Frühling 2021 keine Besserung der Lage in Sicht. Ich wollte einfach nicht noch länger warten.
Der Untertitel des Albums lautet „Past. Present. No Future“. Wie ist das gemeint?
Ich hatte den Titel bereits 2018 im Kopf. Zu dieser Zeit gab es für Corona, für Restriktionen der Clubszene aber noch keinerlei Anzeichen. Ich habe damals etwas vorweggenommen, was jetzt leider traurige Realität ist.
Wie wirkt sich das Virus auf die Clubkultur aus?
In der Geschichte von House und Techno ist es bislang sicher der radikalste Einschnitt und der größte Bruch. Es hat dazu geführt, dass viele Clubs gar nicht mehr existieren. Und viele werden noch schließen. Täglich erreichen mich neue Hiobsbotschaften. Viele Besitzer werden das finanziell nicht länger durchstehen. Und der Staat sieht ihnen dabei zu. Auch ich bin seit acht Monaten arbeitslos. Ich fasse die Maßnahmen als Berufsverbot auf. Es sind viele Leute ihrer Zukunft beraubt worden.
Wie sieht es mit Unterstützung für die Branche aus?
Es gab am Anfang ein wenig finanzielle Unterstützung, aber das wars. Die elektronische Musikkultur, Künstler, Booker, Veranstalter, Clubbetreiber und DJs sind für die Entscheidungsträger nicht systemrelevant. Wir wurden einfach vergessen. Wertschätzung funktioniert anders.
Dabei sind Musikclubs und die Nachtwirtschaft ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Ja, Deutschland gilt als Techno-Weltmarktführer. Wir sind nicht nur in der Automobilindustrie top, sondern auch im Bereich Techno und der elektronischen Musik. Aber Techno wurde und wird von den Entscheidungsträgern immer auf irgendetwas reduziert, was es nicht ist. Es sei keine Kultur, keine Musik, nicht förderbar. Das seien doch nur Leute, die ohne Sinn und Verstand zu irgendwelcher ohrenbetäubenden Musik tanzen. Solche Aussagen höre ich immer wieder. Das ist ein großes Missverständnis.
Blicken wir in die Zukunft: Ein Impfstoff erlaubt wieder Partys, Festivals ohne Einschränkungen. Wie werden die Menschen anfänglich feiern – mit dem gewohnten Mindestabstand?
Wenn morgen das Berghain (Techno-Club in Berlin, Anm.) aufmachen würde, würden Tausende von Menschen um Einlass betteln. Ich denke, wenn das alles vorbei ist, wird in den ersten Wochen sehr exzessiv und ausschweifend gefeiert werden.
Die Wurzeln von House liegen in der Black Community. Die von diversen Magazinen erstellten DJ-Listen werden aber meist von weißen Künstlern angeführt. Was läuft da schief?
Das sind ja auch Witz-Rankings. Von den 100 DJs, die da gelistet werden, kenne ich 80 Namen nicht. Diese DJs haben dann auch eine Fehlinterpretation von House und Techno, spielen stattdessen reine Unterhaltungsmusik. Diesen Leuten würde ich jeden künstlerischen Anspruch absprechen.
Sie kehren mit Ihrem neuen Album zu den Anfangszeiten von House und Techno zurück. Vor wem verneigen Sie sich?
Vor der Gay-Black-Community in Chicago und New York der 80er. Am Anfang wurden Disco und House nämlich ausschließlich in Schwulenclubs der Black Community gespielt. Hier waren dann auch keine anderen Leute erwünscht. Die Szene hat sich erst später geöffnet, etwa im New Yorker Studio 54, in der Paradise Garage oder im Warehouse in Chicago. Ich verneige mich vor den Epigonen dieser Zeit wie Ron Hardy, Frankie Knuckles, Lil’ Louis und Larry Levan.
Klingt nach Konzeptalbum.
Ja, ich habe zu den Anfängen viel recherchiert, bin tief in die Materie eingetaucht, durfte viele Protagonisten persönlich kennenlernen, mit ihnen auflegen, sie beobachtet und viel von ihnen lernen. Für das Album habe ich mit alten, ausschließlich analogen Gerätschaften gearbeitet, die zu dieser Zeit, Mitte bzw. Ende der 80er-Jahre, am Markt waren. Es gab zwar digitale Nachbearbeitung, aber es wurden keine neuen digitalen Sounddesigns hinzugefügt.
In Chicago und den USA werden Wegbereiter der elektronischen Clubmusik aber kaum wertgeschätzt.
Das stimmt. Ich kann mich an Zeiten Anfang der Neunziger erinnern, wo Derrick May, Juan Atkins, all die Pioniere nach Europa kamen und hier als Könige gefeiert wurden, während sie zu Hause, in den USA, überhaupt keine Bedeutung oder Relevanz hatten. Aber ich denke, dass das international bereits mehrfach beleuchtet wurde, durch Dokumentationen, durch Berichte. Die ganze Chicago-House- und Detroit-Techno-Entstehungsgeschichte wurde bereits vielfältig aufgearbeitet.
Das Cover Ihres neuen Albums hat der deutsche Künstler Jonathan Meese entworfen. Wie kam es dazu?
Ich schätze seine künstlerische Arbeit sehr. Jonathan hat mir über 60 Entwürfe geschickt, von denen ich vier für das Cover ausgewählt habe. Aus dieser Begegnung ist ein gemeinsames Album entstanden. Wir werden es nächstes Jahr veröffentlichen.
Welche Funktion hat Meese in der Band?
Er ist Performer, Songwriter und Sänger. Er hat alle Texte geschrieben.
Vor einem Jahr haben Sie ein Parfum mit dem Namen „Techno“ herausgebracht. Ich konnte es leider nirgends finden. Wie riecht es?
Es riecht natürlich nicht nach einer Plattenkiste, die ich nach einem Party-Wochenende zu Hause aufmache – nach einer Kombination aus Vinyl, Zigaretten, Alkohol, Schweiß und Nebelmaschine. Diesem speziellen Geruch bin ich nicht gefolgt. Es basiert stattdessen auf Weihrauch-Komponenten mit einer minimalen Zitrus-Note. Alle Zutaten kann ich aber nicht verraten.
Warum kann man das Parfum nicht mehr kaufen?
Weil es eine limitierte Auflage war. Ich bin aber gerade mit dem Hersteller in Kontakt, ob wir den Duft neu auflegen. Ich habe selber nur noch eine Probe zu Hause, aber das Wichtigste ist: Ich habe die chemische Formel und kann das jederzeit reproduzieren. Ich arbeite auch schon am zweiten Parfum.
Wie wird es heißen?
House. Und vielleicht mache ich dann noch Acid und Trance.
Zur Person
Helmut Josef Geier steht seit mehr als 30 Jahren als DJ Hell hinter den Plattenspielern weltweit angesagter Clubs und Festivals. Mit dem 1996 in München gegründeten Label International Deejay Gigolos hat der gebürtige Bayer das Musikgenre Electroclash maßgeblich beeinflusst.
Zum Album
Auf „House Music Box“ vermengt DJ Hell eine mächtige 808er Bassdrum mit infektiösen, anlog-rauen Synthie-Riffs. Der Groove stimmt, die Bassline sitzt, die Sounds aus den Vintage-Drumcomputern sind herrlich ungeschliffen und fahren direkt ins Gebein. Das ist eine tanzbare und gelungene House- und Techno-Geschichtsstunde. „Don’t stop!“ fordert ein Vocal-Sample auf der Platte. Dem kann man sich nur anschließen.
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