„Die Malerei soll aus nichts bestehen als aus der Darstellung von Objekten, die für den Künstler sichtbar und greifbar sind“, schrieb der Franzose Gustave Courbet 1855 als Leitwort zu einer bald legendären Ausstellung. Diese sollte den Begriff „Realismus“ wie einen Pflock in die Kunstgeschichte einschlagen.
Courbets Manifest kam 15 Jahre nach dem Tod von Caspar David Friedrich, den man als Zentralfigur der Romantik in der Malerei kennt. „Der Maler soll nicht nur malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht“, hatte dieser seinen Kollegen als Ratschlag hinterlassen. „Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“
Fakten und Feeling
Außenschau und Innenschau, Realismus und Romantik sind also die großen Gegensatzpaare, um die die Kunst ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Slalom fuhr. Dass die Pole nicht so klar voneinander abzugrenzen sind, ja bisweilen eng aneinanderlagen, wird in der Schau „Lebensnah“ im Oberen Belvedere nun deutlich.
Nach einer Präsentation zur Biedermeiermalerei ist es die zweite, mit langer Laufzeit (bis 1. 11.) angelegte Schau, die Bestände des Museums unter einem ausgewählten Gesichtspunkt vor den Vorhang holt.
Wobei diesmal eben keine Epoche im Fokus steht: Der Blick auf „realistische Malerei“ spannt den zeitlichen Bogen von 1850 bis 1950, was dazu führt, dass Stile mitunter heftig kollidieren. Der Einblick in eine Schmiede, von Hugo Charlemont um 1883 gemalt, kommt da etwa neben dem Bild eines modernen Stahlwerks zu hängen, das Paul Kiring um 1932 in übersteigerten Farben abbildete.
Die „Neue Sachlichkeit“ der 1920er Jahre ist ebenso Teil dieses Realismus wie Malerei des 19. Jahrhunderts, die oft soziale Missstände anprangerte. Mit der bloßen Unterscheidung zwischen Sachdarstellung und emotional aufgeladener Seelenmalerei kommt man diesem Kunstgeschichte-Kapitel nicht bei.
Mühlen und Mönche
Was ist etwa mit der exakt gemalten Ansicht eines Klosterhofs im Winter, die Carl Hasenpflug 1854 schuf und die bei allem „Realismus“ doch voll den romantischen Ruinen-Kult und die Lust an der sinnierenden Selbstisolation bedient? Was mit Emil Jakob Schindlers Gemälde „Mühle im Mondlicht“ von 1886, das vordergründig ein Werksgebäude abbildet, aber vor allem auf Stimmung und Atmosphärik abzielt? Auch Ober-Realist Courbet hat seinen „Just the Facts“-Anspruch untergraben: Sein Bild eines verwundeten Soldaten (1866) ist stark ästhetisiert und emotionalisiert.
Der Inhalt zählt (auch)
Gegliedert ist die Schau entlang von Motiven: „Gesichter der Gesellschaft“ heißt ein Abschnitt mit Porträts, „Der Blick nach innen“ einer über den häuslichen Rückzug (man glaubt gar nicht, wie oft Menschen ihre Bücherwände malen ließen).
Der Arbeitswelt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind gleich zwei Säle gewidmet, „Die Dinge des Lebens“ heißt das Kapitel über Stillleben, in dem sich auch ein famoses frühes Gemälde Vincent van Goghs findet.
Was bei dieser Ordnung etwas untergeht, ist der Umstand, dass sich die Kunst zwischen 1850 und 1950 zur Moderne hinbewegte, dass das „Wie“ der Malerei also wichtiger wurde als das „Was“. Man sieht die Auflösung des beschreibenden Malstils in freie Pinselarbeit (bei Rudolf Ribarz oder Carl Schuch), aber auch Rückgriffe auf Alte Meister und extreme Feinmalerei (Sergius Pauser, Rudolf Hausner).
Mehr als eine Rundschau „realistischer Malerei“ ist es also ein Panoptikum künstlerischer Möglichkeiten, das das Kuratorenduo Franz Smola und Kerstin Jesse versammelt hat – und eine Erinnerung daran, dass Kunstgeschichte nie geradlinig verläuft. Die Frage, welche Kunst dieser Zeit in bürgerlichen Wohnzimmern blieb und welche im Museum landete, reizt ebenso zum Weiterdenken wie jene, ob malerische Qualität oder der Inhalt Bilder langfristig haltbarer macht. Es ist bis Herbst Zeit, sich ein Bild zu machen.
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