Haneke lässt in seinem Film, der 2012 mit einer Goldenen Palme und einem Oscar bekrönt wurde, vieles im Ungewissen; Henkel hingegen gibt mit ihrem manipulativen Erklärstück eindeutige, nicht weniger unangenehme Antworten. Und so führt der Titel „Liebe“ – ein Mann pflegt seine siechende Frau aufopferungsvoll und erlöst sie schließlich – ein wenig in die Irre: Der knapp zweieinhalbstündige Abend (inklusive Pause) müsste eigentlich „Sterben“ heißen. Er greift Ferdinand von Schirachs „Gott“ auf, beleuchtet den Komplex aber aus einem anderen Blickwinkel.
Henkel hat nur eine einzige, für den Film atypische Einstellung von Haneke übernommen: den Blick in den Saal vor einer Aufführung. Doch der ehemalige Schüler der Klavierlehrerin Anne wird nicht Schubert zu spielen beginnen. Denn die Regisseurin lässt das Publikum sich selbst im projizierten Video-Spiegelbild (mit Schwarz-Weiß-Umkehrung) erkennen. Das wirkt vielleicht ein wenig aufdringlich. Ja, Henkel, die sich auch vom Doku-Theater des Kollektivs Rimini Protokoll inspirieren ließ, ist geradezu unangenehm aufdringlich, ihre Inszenierung in gewisser Weise eine Zumutung. Man kann sich ihr nicht entziehen.
Anders als der Film – die Feuerwehr bricht eine Türe einer Altbauwohnung in Paris auf und entdeckt schließlich eine aufgebahrte Frauenleiche – beginnt Henkel mit der Verzweiflungstat: Schon während des Einlasses sitzt André Jung rechts an der Rampe, den Polster, mit dem sein Georges die innig geliebte Frau erstickt hat, umklammert. Und er erklärt, warum er den Ellenbogen verwenden musste.
Bereits da fallen mehrere Ebenen in eins: Jean- Louis Tritignant hatte sich bei den Dreharbeiten das Handgelenk gebrochen. Zudem werden Anweisungen aus dem Drehbuch zitiert, dann wieder driftet die Handlung in Gedankengänge ab. Aber Henkel baut vor: Mit orangen Wimpeln wird verdeutlicht, wenn sich das Geschehen vom Original entfernt.
Statt einem konkreten Ort – einer hypernaturalistisch eingerichteten, großbürgerlichen Altbauwohnung – hat Muriel Gerstner einen abstrakten, sich zentralperspektivisch nach hinten verjüngenden „Todestunnel“ gezimmert. Die weißen Wände dienen zunächst für die Angaben der Aristotelischen Einheiten. Ein Kind malt mit schwarzer Farbe das Datum auf (30. Juli 2023), wenig später werden die Angaben wie durch Geisterhand verwischt. Und Anne, nach dem Schlaganfall unfähig zur Artikulation, pinselt fahrig überallhin „Hilfe“. Diese schwarze Farbe, die auch aus einem bedrohlichen Sack am Plafond rinnt, klebt bald überall: nicht nur an Jung, sondern auch an Anne, die es, weil jeder Mensch viele Facetten hat, gleich mehrfach gibt. Eben als Mädchen, als strahlende Frau und als Greisin.
Karin Henkel lässt Katharina Bach, eine Enddreißigerin, die Todgeweihte verkörpern. Das macht das Spiel vom Sterben, das jedermann betrifft, irgendwie erträglich. Joel Small ergänzt als langes Elend mit weißer Perücke pantomimisch zitternd. Schwarze Farbe rinnt seine Beine hinab – und Jung wischt es verzweifelt weg.
Die Pflege, von Haneke fast völlig ausgespart, steht bei Henkel im Mittelpunkt. Zwei Ansager (Joyce Sanhá und Christian Löber) erklären, wie man jemanden in den Rollstuhl bugsiert, wie man mit dem Krankenbett umgeht, wie man die Windeln wechselt und so weiter, sie erklären auch den Zeitdruck, unter dem die Pflegekräfte stehen. Mitunter wird es sarkastisch, dann wieder makaber.
Die Hilferufe von Anne – Katharina Bachs Stimme hallt enorm – verstören zunehmend. Über die gesamte Szenerie legt sich ein Flimmern, dann weitet sich der Tunnel zur fast freien Bühne. Und ein „Chor“ aus elf Laien erzählt bei einem „Diavortrag“ an der Rampe von ihren Schicksalen. Aspekte des selbstbestimmten Todes werden erörtert. Mit dieser brutalen Packung Realität (im Saal hält jeder ergriffen den Atem an) geht das Publikum in die Pause.
Danach zieht sich das Sterben hin. André Jung, dessen Georges zunehmend überfordert ist, irrlichtert immer mehr herum. Seine egozentrische Tochter (verkörpert von Katharina Bach im strahlend weißen Puffärmel-Kostüm) setzt sich bloß in Szene: Da verliert er kurz die Fassung.
Und Henkel buchstabiert alles durch. Sie lässt auch demonstrieren, wie man sich mit einem Plastiksackerl selbst das Leben nehmen kann, ohne das Ersticken mitzubekommen. Nur die Sache mit der Taube in Hanekes Film: Die kann auch sie nicht erklären.
Befreiender Applaus, Jubel auch als Ausdruck der Erleichterung.
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