"Die Möwe" in Reichenau: Flucht vor Regie und Verstörung

"Die Möwe" in Reichenau: Flucht vor Regie und Verstörung
Anton Tschechows grausame Komödie wird in Reichenau gespielt. Das ist auch schon fast alles

Die wahre Tragödie spielt sich nach der Vorstellung ab: Eine Dame mit Josefstädter Tonfall möchte im Kaffeehaus eine heiße Schokolade, stattdessen wird ihr Kakao angeboten.  „Ein Gaugau ist keine heiße Schokolade“, klärt sie die  Kellnerin pikiert auf. Die Zeiten sind schlecht: Pandemie, Krieg, Benzinpreis – und jetzt auch noch das.

Als hätte Regisseur Torsten Fischer – erst kürzlich mit einer herrlich frivolen „Was ihr wollt“-Inszenierung in den Kammerspielen aufgefallen – solches geahnt, ist er merkbar bemüht, im Festspielhaus jede Irritation zu vermeiden.

Der wunderbare Martin Schwab darf die erste Premiere der Ära Maria Happel in Reichenau mit einem anspielungsreichen Stand-up eröffnen und das Publikum mit Kirschen füttern. Danach folgt bis zur Pause eine  mutlose, wenig interessante „Möwe“ von Anton Tschechow. Es wird nicht gut gespielt, es wird nicht schlecht gespielt, es wird halt irgendwie gespielt. Es ist in keiner Weise spürbar, warum hier überhaupt gespielt wird, es sei denn, um den Abend bis zur Kakao-Katastrophe zu füllen.

Nach der Pause wird die Vorstellung dann plötzlich dringlicher, als würden sich alle auf einmal zusammenreißen. Von Regie ist dennoch wenig zu spüren (wobei: in Reichenau gilt das als Kompliment), jeder spielt halt so vor sich hin.

"Die Möwe" in Reichenau: Flucht vor Regie und Verstörung

Vergebens

In Tschechows „Komödie“ geht es um vergebene Möglichkeiten, um die Unfähigkeit, mit der Liebe zurecht zu kommen, um geplatzte künstlerische Träume – und um die Vernichtung der Jugend durch eine eifersüchtige ältere Generation.

Nils Arztmann zeigt als Kostja hohes Potenzial, seine vor Verzweiflung und inzestuöser Erotik vibrierende Kopfverband-Szene mit seiner Mutter Arkadina (Sandra Cervik ist souverän, ohne zu glänzen) ist eindrucksvoll. Claudius von Stolzmann ist ein zu jugendlich wirkender Trigorin, seine Hörigkeit gegenüber Arkadina und seine gefährliche Wirkung auf Frauen wird nur angedeutet.

(Schönes Detail: Als Cervik ihr Obergewand abgelegt, um Trigorin daran zu erinnern, was er an ihr so mag, flüstert jemand im Publikum deutlich hörbar: „Nein, bitte nicht! Das geht zu weit!“)

Paula Nocker, die Tochter der Intendantin, spielt die Nina als naives Mädchen im gepunkteten Kleidchen, dass in der Rolle und in der Darstellerin mehr steckt, merkt man erst ganz zum Schluss.

Großartig wird in einigen Nebenrollen gearbeitet: Martin Schwab als durchsichtig werdender Sorin, Johanna Mahaffy als am Leben leidende Mascha und Günter Franzmeier als philosophisch vorbelasteter Arzt deuten große Möglichkeiten an.

Am Ende gibt es  großen Jubel. Reichenau bietet auch weiterhin einen sicheren Fluchtweg vor Regietheater und Verstörung.
guido tartarotti

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