Populistisch und seriös
Zur Verteidigung muss man sagen: Die wirklich sehenswerte, hervorragend aufbereitete und mit erklecklichem Aufwand erarbeitete neue KHM-Schau wäre mit einem akademischen Titel wie „Tapisseriekunst des 16. – 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Werks des Pieter Cocke van Aelst“ schlecht verkauft.
Doch es sollte nicht verschwiegen werden, dass die Ausstellung auf einen wenig vertrauten, wenngleich bedeutsamen Zweig der Kunstgeschichte führt und durchaus verlangt, Sehgewohnheiten neu zu kalibrieren. Das ändert freilich nichts an der ästhetischen Stärke der Exponate und der außergewöhnlichen Atmosphäre, die einen umfängt, wenn man sich auf die Materie einlässt.
Raffael, der Star der Show, ist im KHM vor allem Impulsgeber: Die Bildteppiche mit Szenen aus dem Leben des Petrus und des Paulus, die der Renaissance-Meister im Auftrag des Papstes Leo X. um 1515 für die Sixtinische Kapelle entworfen hatte, wurden bis 1521 in Brüssel ausgeführt und hatten enormen Einfluss auf die dortige Tapisserie-Produktion. Denn Raffael, erklärt Kuratorin Katja Schmitz-von Ledebur, führte anstelle der früheren Kleinteiligkeit monumentale Figuren ein und machte die Bilderzählungen klarer und lesbarer. Nicht nur wurden Raffaels Sixtina-Entwürfe in der Folge vielfach kopiert – man kennt rund 50 Auflagen. Auch flämische Künstler wie der erwähnte Pieter Cocke van Aelst orientierten sich daran.
In der KHM-Schau ist ein Stück aus der für die Sixtinische Kapelle gefertigten „Erstauflage“ als Leihgabe der Vatikanischen Museen ausgestellt. Ansonsten steht die KHM-Tapisseriesammlung – nach jener des spanischen Königshauses ist sie die zweitgrößte der Welt – im Zentrum. Der Ausstellungsarchitekt Michael Embacher ersann ein großartiges Präsentationssystem, das die Kettfäden eines riesigen Webstuhls nachahmt – leicht geneigt schweben die riesigen Bildwerke so im Raum, zur Detailbeobachtung liegen Ferngläser auf.
Luxus und Moral
Die Rolle, die Tapisserien einst spielten, muss sich das auf Gemälde konditionierte Museumspublikum aber erst vergegenwärtigen. Nur für besondere Anlässe wurden diese kostbaren Gewebe hervorgeholt, oft bildeten sie den Rahmen für Prozessionen – heute würde man ihre Präsentation als „immersives Erlebnis“ bezeichnen. Die Deutung der Bildprogramme ist mitunter schwierig – die Beschriftung im KHM fokussiert auf Teilaspekte und hilft so, einen Weg zu bahnen.
Es ist aber auch leicht, sich in Details zu verlieren, etwa in der großartigen Serie der „Sieben Todsünden“: Hier werden (im Abschnitt „Völlerei“) Grillspieße und Würste hinuntergeschlungen, im Abschnitt „Wollust“ schwingt ein Herkules seinen phallischen Prügel, bei der „Trägheit“ sitzt ein Mann auf einem lahmen Gaul und hält ein Banner mit Schnecke wie ein Slow-Food-Logo hoch.
Dass derlei Bilder einerseits zu Zucht und Mäßigung mahnten, während sie zugleich Prunk und Luxus zur Schau stellten, erzählt auch viel über die Geisteshaltung der Auftraggeber: Zu sehen ist katholisch abgesegnete Doppelmoral vom Feinsten.
Die Schau ist ab 26. 9. und bis 14. 1. für Publikum geöffnet.
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