Die erste Opernpremiere: Blaubart mit Zombies
Leicht machen es die Salzburger Festspiele ihrem Publikum nicht mit dieser Eröffnungspremiere. Aber warum sollten sie das auch, in so komplexen, schwer durchschaubaren, enorm problembehafteten Zeiten. Kunst ist Denken, Kunst ist Analysieren vermittels Abstraktion, Kunst ist auch Leiden (diesfalls in Salzburg besonders, aber dazu später). Kunst ist keine Flucht vor der Realität, sondern ein tieferes Eintauchen in andere Welten. Ein rein ästhetischer, behübschender, kulinarischer Festspielauftakt – hurra, jetzt feiern wir alle einmal schön und vergessen Viren und Bomben – wäre demnach wohl unangebracht.
Die Werke
Also: Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Carl Orffs „De temporum fine comoedia“ in der Felsenreitschule. Zwei völlig divergierende Werke, das eine aus dem Jahr 1911, das andere aus 1973 (später etwas überarbeitet). Im einen geht es um (Alb)Träume, Fantasien, Abgründe des Individuums, im anderen um Abgründe der Menschheit und nichts weniger als den Weltuntergang. Nur: Die Zusammenführung dieser Stücke, die kompositorisch so gut wie nichts gemein haben, ist ein ziemlich bemühter, ja verkrampfter Akt. Das Ergebnis: eine überintellektualisierte Kopfgeburt und ein Abend mit zwei Gesichtern, einem fabelhaften Bartók neben einem effektheischenden, plakativen, musikalisch auf niedrige Instinkte abzielenden Orff.
Der Dirigent
Teodor Currentzis ist – am Pult des Gustav Mahler Jugendorchesters, das diese sehr große Aufgabe bravourös bewältigt – der Dirigent. Und plötzlich war die vorfeldliche Debatte – wie sehr er Profiteur des Systems Putin sei und ob die Festspiele richtig damit umgegangen seien – vergessen oder zumindest verdrängt. Die Proteste in der Hofstallgasse galten den eintreffenden Politikern und allerlei, Genaues will man gar nicht wissen. Da hätte Karl Nehammer durchaus anreisen und Viktor Orbán mitbringen können – immerhin gab’s was zum Reflektieren über den Zustand der Welt und mit Bartók einen genialen Ungarn. Aber ein paar Pfiffe aus der radikalen Impfgegner-Ecke verhindern heute schon Kultur-Diplomatie.
Für Currentzis gab es bereits Applaus, als er in der völlig abgedunkelten Felsenreitschule mit Taschenlampe zum Pult ging – es wirkte fast so, als würde er sich hereinschleichen, was er in Salzburg offenkundig nicht muss, da wird ihm gehuldigt.
Künstlerisch diesfalls zu recht. Er dirigiert „Blaubart“ sensibel, zurückgenommen, uneitel, aufs Werk fokussiert, klangschön, dynamisch ausbalanciert, mit traumhaften Pianissimi. Etwas mehr Tempo könnte es da und dort geben, aber dieser Einwand betrifft den ganzen Abend, der mit zwei eigentlich kurzen Werken und einer 45 Minuten langen Pause (wegen der Umbauten und weil Wasser von der Bühne gepumpt werden muss) knapp vier langatmige Stunden dauert.
Auch das Orff-Stück dirigiert Currentzis gut, kraftvoll, dramatisch, präzise – die Musikerinnen und Musiker müssen sogar Windgeräusche hauchen. Aber das Dirigat ändert nichts daran, dass „De temporum fine comoedia“ ein vordergründiges, Rhythmus- und Schlagwerk-höriges, repetitives Ungetüm ist, das genauso gut auf eine Fußballtribüne mit Schlachtgesängen passen würde.
Kurz zum Inhalt: Erst zeichnen die Sybillen wie in einem musikalisch belanglosen Walkürenritt ein Bild vom Weltuntergang und prophezeien allen Gottlosen ewige Verdammnis; dann widersprechen die Anachoreten – Gott ist eh lieb und verzeiht; schließlich kommt es in „Dies illa“ zum jüngsten Gericht, und selbst Luzifer wird wieder zu jenem Lichtbringer, der er ursprünglich war. Soweit, so „Jedermann“-affin, so Salzburgisch, so katholisch, daher auch von Karajan 1973 ebendort uraufgeführt.
Gesungen, skandiert, gebrüllt wird von Chormassen (top einstudiert: musicAeterna Choir und Bachchor Salzburg) stakkatohaft, altgriechisch, lateinisch, deutsch, man fühlt sich wie in einer schlechten schwarzen Esoterik-Messe und ersehnt das Ende, also jenes des Werkes. Wenn der Weltuntergang so klingt, na dann gnade uns Gott wirklich.
Der Regisseur
Romeo Castellucci, der Erschaffer wunderbarer Bilderwelten, der kulturhistorisch so bewanderte Verrätsler, versucht zusammenzuführen, was die Festspielgeschichte brav getrennt hatte. Dafür findet er die Dunkelheit als ersten Anker. Die Burg des Blaubart ohne Fenster ist die ersten Minuten hindurch völlig im Dunkeln, eine radikale visuelle Verweigerung. Nach und nach erkennt man das viele Wasser auf der Bühne – ein Sammelbecken für die Tränen. Dazu kommt das Element Feuer, mit dem Judith die Burg erleuchten will – immer wieder brennen Symbole.
Die Geschichte lässt Castellucci im Kopf der Protagonistin ablaufen, sie leidet an Kindheitstraumata (wieso lässt man sich sonst mit Blaubart ein?), zu Beginn schreit zunächst ein Baby, dann eine Frau. Zu öffnende Türen gibt es in dieser Inszenierung nicht, die Felsenreitschule ist mit schwarzen Vorhängen abgedeckt, obwohl sie durchaus Burgcharakter hätte. Psychoanalyse scheint eine große Rolle zu spielen, Judith muss wilde Verrenkungen bis hin zum hysterischen Bogen machen, was man als anti-feministisch lesen könnte. Ausrine Stundyte singt (und spielt) exzellent, Mika Kares schön und nobel phrasierend, wenn auch weit weniger dramatisch.
Dieses fein strukturierte Kammerspiel wird im zweiten Teil durch den Holzhammer und die Chorgewalt kontrastiert (Choreografie: Cindy van Acker). Gleich zu Beginn gibt es eine Steinigung (ist es Judith, die da wieder stirbt?), am Ende taucht Judith tatsächlich erneut auf und bringt Luzifer einen Apfel als Sinnbild des Sündenfalls, und der Erde wird die Haut abgezogen.
Zu diesem Zeitpunkt sind bereits Tote wie Zombies aus ihren Gräbern gekommen – schon vor wenigen Wochen in Aix-en-Provence hatte Castellucci bei Mahlers Auferstehungssymphonie Massengräber ausheben lassen. Man ist auch an seinen „Don Giovanni“ in Salzburg erinnert, bei dem er Hundertschaften an Salzburger Frauen als gigantischen Bewegungschor auf die Bühne gebracht hatte.
Niemand kann Weltuntergang so gut wie Castellucci, das Werk von Orff wird aber dadurch nicht wichtiger. Knapp 50 Jahre ist es in Salzburg im Archiv gelegen. Dort ist es besser aufgehoben, wir haben ja hoffentlich noch Zeit bis zum jüngsten Tag.
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