Resignation statt Revolte

Bilder der Ausstellung: Der Consum-Verein Marienthal, 1912
Der Karl-Marx-Hof zeigt eine Ausstellung über die Pionier-Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal".

Man lebt von Tag zu Tag dahin und weiß nicht warum“ heißt es in der Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“, die bereits vor 80 Jahren erforschte, welche Folgen lang andauernde Arbeitslosigkeit hat. Eine Pionierleistung der Sozialforschung.

1930 musste die Textilfabrik „Marienthal“ in Gramatneusiedl südlich von Wien infolge der Wirtschaftskrise schließen. Aus 1300 Arbeitern und Arbeiterinnen wurden 1300 Arbeitslose.

Otto Bauer, der damals führende Mann der österreichischen Sozialdemokratie, gab den Impuls: Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler machen sich damals auf, das Phänomen der Arbeitslosigkeit zu ergründen. Sie legten Katasterblätter an, notieren Lebensläufe, maßen Gehgeschwindigkeiten und analysierten Schulaufsätze.

„Viele Stunden stehen die Männer auf der Straße herum, einzeln oder in kleinen Gruppen; sie lehnen an der Hauswand, am Brückengeländer. Wenn ein Wagen durch den Ort fährt, drehen sie den Kopf ein wenig; mancher raucht eine Pfeife. Langsame Gespräche werden geführt, für die man unbegrenzt Zeit hat. Nichts muß mehr schnell geschehen, die Menschen haben verlernt, sich zu beeilen.“

Die Studie erschien 1933 in einem Leipziger Verlag. Erst die Neuausgabe im Jahr 1960 machte sie einem größeren Leserkreis zugänglich. Und mit der englischsprachigen Ausgabe 1971 wurde „Die Arbeitslosen von Marienthal“ endgültig zum Klassiker der empirischen Sozialforschung.

Resignation statt Revolte
Porträt Marie Jahoda. © Waschsalon Karl-Marx-Hof, AGSÖ (Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Uni Graz)
Auch die an der Studie beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen – unter ihnen Paul Felix Lazarsfeld und Marie Jahoda, die als junges Ehepaar ab 1929 auch im Karl-Marx-Hof wohnten, sowie Hans Zeisel – machten großteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg im Exil Karriere. Die meisten blieben einander zeitlebens verbunden.

Marie Jahoda war später an der „Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ der Universität Wien tätig. Sie promovierte mit 25 Jahren und war damit eine der jüngsten Doktorinnen Österreichs. Jahoda starb 2001 in Sussex in Großbritannien, wo sie einen Lehrstuhl für Sozialpsychologie innehatte.

Tragische Chance

„Wir haben als Wissenschaftler den Boden Marienthals betreten: wir haben ihn verlassen mit dem Wunsch, daß die tragische Chance solchen Experiments bald von unserer Zeit genommen werde,“ heißt es in der Studie.

Unter den Schlussfolgerungen der Marienthal-Studie ist jene der „müden Gemeinschaft“ von besonderer Brisanz. Marie Jahoda brachte es 1981 auf den Punkt: „Arbeitslosigkeit führt zur Resignation, nicht zur Revolution.“

Meilenstein

Heute gilt das Projekt als Meilenstein in der Entwicklung der empirischen Sozialforschung und als Musterbeispiel der Theoriebildung in Kombination von quantitativen, qualitativen, vorgefundenen und erhobenen Daten.

Info: Seit 12. September zeigt der Waschsalon Karl-Marx-Hof eine Sonderausstellung über jene Studie, die sich vor 80 Jahren erstmals wissenschaftlich mit dem Thema “Arbeitslosigkeit“ beschäftigt hat.1190 Wien; Waschsalon Nr. 2. Karl-Marx-Hof, Halteraugasse 7. Öffnungszeiten: Do. 13–18 Uhr, So. 12–16 Uhr sowie für Gruppen nach Voranmeldung.Tel. +43 (0) 664 885 40 888;

www.dasrotewien-waschsalon.at

Kommentare