Die Angst der Museen vor der Schwelle
Erinnern Sie sich noch an den „Bilbao-Effekt“? Es gab eine Zeit, da wollte fast jede Stadt diese kulturelle Wunderwaffe nutzen. Modell war das Guggenheim Museum im spanischen Bilbao: Durch den spektakulären Kunstbau – vom Architekten Frank O. Gehry geplant – wurde eine bis dahin dahindümpelnde Region zur Marke und zur Tourismusdestination. Allein im vergangenen Jahr spülte das Museum 197 Millionen Euro in die Stadt, weit mehr als die 90 Millionen Euro, die der Museumsbau gekostet hatte. Dazu kamen – unterstützt durch weitere Infrastrukturmaßnahmen – vielfältige ökonomische Effekte.
Bis in den Jänner dauern noch die Feierlichkeiten zum 25-jährigen Bestehen des Museums an, dessen Rezept zahlreiche Nachahmer fand – vom Kunsthaus Graz (Architekt Peter Cook) bis zu weiteren Gehry-Bauten wie dem „Marta“ im deutschen Herford oder dem LUMA im französischen Arles.
Abseits der Hierarchie
Doch es ist nicht zu übersehen, dass sich der Fokus der Museumswelt verlagert hat: Statt spektakulärer Zeichensetzung ist das oberste Ziel, diverse Bevölkerungsschichten einzubinden, offene Orte zu schaffen, Barrieren abzubauen – in der Programmierung wie auch in der Bauweise von Museen.
„Ein Problem der Star-Architekten-Periode war, dass man eine Art hierarchischer Architektur durch eine andere ersetzt hat“, sagte András Szántó, international tätiger Kulturberater mit Wurzeln in Ungarn und Wohnort New York, jüngst bei einem Vortrag in Wien.
Der Autor mehrerer Bücher zum Thema führte dabei den Paradigmenwechsel anhand einiger Begriffspaare vor: Die ganzheitliche Erfahrung trete zunehmend an die Stelle pädagogischer Wissensvermittlung, die individuelle Auseinandersetzung anstelle des Spektakels, das „Horizontale“ anstelle des „Vertikalen“. Es gibt kein richtig und falsch beim Museumsbesuch mehr, denn Museen sind Einrichtungen „im Dienste der Gesellschaft“ und nicht primär im Dienste von Dingen: Diese Maxime wurde auch in der im August verabschiedeten neuen Museumsdefinition des Dachverbands ICOM offiziell festgeschrieben.
Bis solche Postulate einsickern, braucht es freilich Zeit. Gerade historische Museen wurden mehrheitlich als elitäre Tempel konzipiert, in denen man – oft über eine Vielzahl von Schwellen – zu vorgeblich „Höherem“ emporsteigt.
In der Alten Pinakothek in München, einem exemplarischen Bau dieser Art, wagte man zuletzt eine Umstellung der Altmeister-Galerien. Offensichtlichste Neuerung ist ein Saal, in dem Vermittlungsprogramme direkt neben ausgewählten Gemälden stattfinden.
Entschult
Das System der Ordnung nach geografischen „Schulen“ wurde aufgegeben, wie Kurator Andreas Schumacher erklärt: „Diese Künstler haben immer europäisch gedacht. Das 19. Jahrhundert hat mit der Idee von Nationalstilen zu lange nachgewirkt.“ Die Neuhängung – vorerst auf zwei Jahre angelegt – orientiert sich nun an motivischen, zeitlichen oder stilistischen Parallelen und sei dabei wissenschaftlich fundiert, betont der Kurator: „Die Themen sollten aber erspürbar sein.“ Zum alten Modell werde man nicht zurückkehren.
Sich selbst seinen Weg zur Kunst bahnen kann das Publikum auch in neuartigen Gebäudeformen, die im Gefolge des Umdenkens entstehen: So ist der im November 2021 eröffnete, außen voll verspiegelte Zubau des Museums Boijmans van Beuningen in Rotterdam als erstes offenes Museumsdepot der Welt konzipiert. Besucherinnen und Besucher wandern hier inmitten des Betriebs herum, können Kunstwerke hervorholen lassen und je nach Interesse in die über 150.000 Objekte umfassende Sammlung abtauchen. 250.000 Menschen taten es im ersten Jahr.
Außen wird Innen
Während Museen älteren Typs in den Außenraum drängen – das Belvedere etwa zeigt 2023 zeitgenössische Kunst in den Gärten – versuchen neue Museen verstärkt, den Außenraum nach innen zu holen oder als öffentliche Plätze zu fungieren.
Das sichtbarste Beispiel dieser Philosophie soll das in Bau befindliche Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin werden, dessen Eröffnung 2026 geplant ist. Laut dem Plan der Schweizer Architekten Herzog & de Meuron sollen dabei unter einem gigantischen Dach entlang zweier Boulevards verschiedene Gebäudeteile Platz für Kunst, aber auch für „Möglichkeiten des Verweilens und der Begegnung“ bieten.
Begegnung im Klimachaos
Das Projekt steht aber unter Beschuss – wegen seiner im bisherigen Verlauf enorm gestiegenen Errichtungskosten (derzeitiger Rahmen: 450 Millionen Euro), aber auch wegen der von Experten geäußerten Befürchtung, die Klimatisierung des als „Scheune“ bekannten Baus werde Unsummen verschlingen und jedem Nachhaltigkeitsgedanken zuwider laufen. Herzog & de Meuron versuchten nun zu kalmieren – nur einzelne Teile müssten aufwändig klimatisiert werden, im Frühjahr 2023 werde man zudem optimierte Pläne vorlegen.
Die Frage, ob das Ziel der Öffnung erreichbar ist, bleibt unbeantwortet: Denn auch ohne Schwellen bleiben Kunsthäuser teure Angelegenheiten, die Abhängigkeit von reichen Eliten ist – insbesondere in Ländern mit schwachen öffentlichen Kultur-Etats – groß. Klima-Aktivisten sahen Museen zuletzt eher als Orte, an denen sich Spannungen entladen, als Plätze, um sich zu begegnen. Und ob die Kunst in einem Museum, das viele öffentliche Funktionen erfüllt, zur Nebensache gerät, ist ebenso Gegenstand der Diskussion. Sicher scheint nur: Der Weg führt nach vorne, und nicht zurück.
Neue Bauten
Projekte jüngeren Datums wie der Ausbau des Museums Moderner Kunst in Medellín/Kolumbien (Architekten Ctrl-G/51-1, 2015); das Nationalmuseum Estlands (Lina Godmeh, 2016), oder das „National Museum of African American History & Culture“ (David Adjaye, 2016) fügen sich in ihr Umfeld ein, statt monumental hervorzustechen
Neue Formate
Das Belvedere 21 öffnet sich ab 6. 4. 2023 der lokalen Szene und zeigt ab 13. 5. Zeitgenössisches im Außenraum. Die Albertina Modern hat für Herbst 2023 eine Schau zum Thema „Diversity“ geplant. Die Alte Pinakothek München zeigt „Alte Meister in Bewegung“
Buchtipp
In „The Future of the Museum“ (2020) und und „Imagining the Future Museum“ (2022) versammelt András Szántó Gespräche mit Experten aus Museumsplanung und Architektur. Hatje Cantz, je 24€
Kommentare