Der Preis der Bilderleidenschaft

Der Preis der Bilderleidenschaft
Am wichtigsten Marktplatz für Fotografie wurde auch mit Lebensgeschichten gehandelt.

Anne-Marie Merryman kam nie viel in der Welt herum: Lieber saß die Dame in ihrem englischen Landhaus im Lehnstuhl und machte Gedankenreisen mit ihrer Post­karten-Sammlung. Mrs. Merryman starb 1980, im selben Jahr, in dem ihre Enkelin Anne-Sophie geboren wurde. Die Holzschachtel mit den Postkarten war für diese der einzige Weg, die Großmutter kennenzulernen.

Heute ist „Mrs. Merryman’s Collection“ ein preisgekröntes Künstlerbuch (Mack Books, 57,99 €) . Die originale Holzbox mit den Postkarten lag bis gestern, Sonntag, am Stand der Londoner Hoppen Gallery auf der Messe „Paris Photo“: Um 50.000 Euro war die Sammlung zu erstehen.

Am Markt für Spitzen-Sammlerfotografie, der auf der Messe im Pariser Grand Palais sein jährliches Gipfeltreffen findet, zählt nicht allein das Sujet, die Bildqualität oder der Name des Fotografen: Es sind die Geschichten und die Zusammenhänge, die letztlich den Preis bestimmen. Auch wenn einzelne Bilder leichter zu verkaufen wären, war es für viele Galerien eine Sache des Renommees, auf der Messe ganze Konvolute anzubieten.

Vom Urgroßvater

Am Stand der Bonner Feroz Galerie versuchte dies etwa Julian Sander. Er ist der Urenkel von August Sander, dessen Porträtserie „Menschen des 20. Jahrhunderts“ aus den 1920er-Jahren zu den epochalen Werken der Fotogeschichte zählt. 24 frühe Abzüge („vintage prints“) hatte Sanders Enkel zu einer Gruppe zusammengestellt, Urenkel Julian bietet sie nun um 2,7 Millionen Euro an: „Wenn man sich vor Augen hält, wie viel Arbeit nötig war, das zusammenzutragen, eigentlich ein Schnäppchen.“

Ein paar Kojen weiter hatte der Wiener Galerist Johannes Faber ebenfalls Sander im Angebot: 70 großformatige Abzüge von Porträtfotos – die letzten, die die der Fotograf noch zu Lebzeiten selbst für eine Ausstellung (1963) ausgesucht hatte – waren hier um 2,8 Millionen Euro zu haben. Dazu zeigte Faber Aktbilder, die der Fotograf Edward Weston seinem Modell Anita Brenner selbst geschenkt hatte (180.000–280.000 €). In Wien hat der Galerist die Bilder bisher nicht gezeigt: „Wir haben dort niemanden, der diese Preise zahlt.“

Peter Coeln, der mit seinem Fotoschauplatz „Westlicht“ heuer seinen ersten Auftritt auf der Messe hatte, setzte ebenso auf den Effekt geballter
Sammlungen. Mit einer 46-teiligen Bildserie von Rudolf Schwarzkoglers sechster Aktion (1972/’73, 400.000 €) hatte er gleichzeitig ein Miniatur-Museum für den Wiener Aktionismus aufgebaut: Beim Vernissagenpublikum sorgten die drastischen Bilder für den einen oder anderen Schock-Effekt. Auch die zweite Serie bei Westlicht – übermalte Bondage-Fotos von Nobuyoshi Araki (2006, 330.000 €) waren starker Tobak und der erwünschten Aufmerksamkeit sicher nicht abträglich.

Als Aktionismus-Fan outete sich Filmregisseur David Lynch: Er hatte aus dem gesamten Messeangebot eine Favoritenliste erstellt. Neben Schwarzkogler faszinierte Lynch ein Projekt der Koreanerin Hyun-Jin Kwak: Sie hatte im italienischen Reggio Emilia ein heruntergekommenes Schloss aufgespürt, dessen Bewohner in manischer Art Dinge hortete.

Sammlergeist

„Fallstudie eines Sammlergeists“ lautet der Untertitel der Serie, die auch als Buch erhältlich ist („The Island“, Revolver Books, 35 €) ; einen großformatigen Abzug bot die Kopenhagener Galerie Peter Lav um 18.000 € an.

Als Gegenfigur zu dem von Lynch favorisierten chaotischen Sammlertrieb erschien Hilla Becher, der zweite große Stargast der Messe. Mit kühlen Fotoserien von Industriebauten und langer Lehrtätigkeit an der Düsseldorfer Kunstakademie hatten Becher und ihr Mann Bernd zahlreiche Künstler geprägt: Etwa Axel Hütte, der in Paris von der Salzburger Galerie Ruzicska vertreten wurde, oder Thomas Ruff. Letzterer hat sich mit entfremdeten Internet-Pornofotos und astronomischen Aufnahmen heute am weitesten von seinen Lehrern entfernt. Wie Ruff bei einer Podiumsdiskussion auf der Messe sagte, sei es irgendwann doch fad geworden, immer nur Serien in Schwarz-Weiß zu fotografieren.

Noch bis Ende November dauert der „europäische Monat der Fotografie“: Alle zwei Jahre bündeln Foto-Institutionen in Wien, Berlin, Bratislava, Budapest, Ljubljana, Luxemburg und Paris ihre Kräfte, um Sonderprogramme auf die Beine zu stellen. Manche Projekte dauern über den Monat hinaus an.

Ausstellungstipps

Das Fotoinstitut Bonartes (Seilerstätte 22, 1010 Wien, www.bonartes.org) zeigt bis 8. 2. 2013 „Orientalische Phantasien“: Gezeigt werden Originalfotos, die österreichische Maler wie Hans Makart, Rudolf Huber und Carl Leopold Müller von einer Studienreise aus dem Nahen Osten mitbrachten.
Das MUSA (Felderstraße 6, 1010 Wien, www.musa.at) zeigt unter dem Motto „distURBANces“ bis 5. 1. 2013 Fotos utopischer Orte, die häufig mithilfe digitaler Bildbearbeitung entstehen.

Gleich drei neue Ausstellungen zeigt das Wiener Künstlerhaus (Karlsplatz 5, 1010 Wien, www.k-haus.at) : Neben einer Schau zum Thema Selbstporträt sind Solo-Ausstellungen von Sabine Hauswirth und Pez Hejduk zu sehen (bis 2. 12. 2012).

Selbstporträts spielen auch in der sehenswerten Schau „Foto-Automaten-Kunst“ im KunstHausWien (Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien, www.kunsthauswien.at, bis 13. 1 .2013) eine prominente Rolle.

Fotosammler blicken auf die „Westlicht Photographica Auction“ am kommenden Freitag; bis zur Versteigerung sind alle Lose gratis zu besichtigen (Westbahnstraße 40, 1070 Wien, www.westlicht.at) . In der alten Ankerbrot-Fabrik in Favoriten hat neben der Westlicht-Dependance „Ostlicht“, die bis 9. 1. 2013 Fotos von Wim Wenders zeigt, vor Kurzem auch die Galerie Anzenberger mit der Fotoschau „Me, Myself & I“ eröffnet (bis 31. 1. 2013, Absberggasse 27, 1100 Wien; www.anzenbergergallery.com, www.ostlicht.at). Auch zahlreiche Restaurants und Hotels stellen im Rahmen von „Eyes On“ Fotos aus.

www.eyes-on.at

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