Der Antiheld der Kunstgeschichte

Joseph Cornell: Untitled (Medici Princess), um 1948 (Ausschnitt)
Die Schau „Joseph Cornell – Fernweh“ feiert die Kraft der Kunst.

Das Magazin Life nannte ihn den „rätselhaften Junggesellen vom Utopia Parkway“. Und tatsächlich lässt sich viel Verwunderliches über den hageren Mann erzählen, der fast sein ganzes Leben in einem bescheidenen Vorstadt-Häuschen an der gleichnamigen Straße in Queens, New York, verbrachte. Als Joseph Cornell 1972 mit 69 Jahren starb, hatte er sich ein Leben lang fast ausschließlich von Süßigkeiten ernährt; in seinem Keller hinterließ er eine ungeheuer große Sammlung von Papageien-Bildchen, Spielzeugen und Reproduktionen von Altmeister-Gemälden.

Die Konzentration auf die seltsame Biografie stellt Cornell jedoch in jene Ecke, aus der ihn die Ausstellung „Fernweh“ im Kunsthistorischen Museum (KHM) hervorholen möchte: Denn die Kunstwelt hat Cornell längst als einen ihrer zentralen Impulsgeber erkannt.

Weit mehr als bloß ein Sonderling, schuf er ein Werk, das die Installationen der heute aktuellen Kunst weit vorwegnahm. Marcel Duchamp und Salvador Dalí waren früh Freunde Cornells, Andy Warhol oder Yoko Ono suchten später seine Nähe und Inspiration.

Kunstkammer der Moderne

Es ist aber keine Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst, die die KHM-Schau, die zuvor in veränderter Form bereits in London zu sehen war, erzählt: Cornells filigrane Schaukästen, seine winzigen Collagen auf Briefpapier, seine Leporellos und Schatullen stehen in Wien dezidiert im Bezug zur Kunstkammer, dem Zeugnis des habsburgischen Spiel- und Sammeltriebs.

Wie die Kunstsammlungen früherer Herrscher und Fürsten bilden auch Cornells Werke ein "theatrum mundi": Die Idee, die Welt im Kleinen nachzubilden und dabei auch einen übergeordneten „Bauplan“ zu erfassen, durchzieht die Werke des US-Amerikaners, die ab Anfang der1930er-Jahre häufig die Form von Schaukästen, sogenannten „Shadow Boxes“, annahmen.

Das KHM zeigt die Werke in einem Saal in konzentrierter Form – aufgrund der Empfindlichkeit des Materials schwach beleuchtet und in Vitrinen niedrig positioniert. Bereits Cornell selbst sah in Kindern ein wichtiges, verständnisvolles Publikum für seine Kunst.

Tatsächlich kann man sich leicht in der Verspieltheit von Cornells Konstruktionen verlieren und der materiellen Qualität der Arbeit anheimfallen: Manches, etwa die aus einer Fotografie, einem Glas und ein paar Mini-Wäscheleinen arrangierte Arbeit „Naples“ (Neapel, 1942) erscheint als Miniatur-Bühne, anderes, wie eine Materialbox zum Bayernkönig Ludwig II., wie ein elaboriertes Sammelalbum eines leidenschaftlichen Fans.

Dem langlebigen Missverständnis, Cornell sei letztlich ein extravaganter Bastler gewesen, wirkt das KHM durch die nüchterne Präsentation entgegen: Boxen und Bilder haben eine visuelle Kraft und Stimmigkeit, die sich nur aus einer künstlerischen Vision und der Kenntnis eines wie auch immer gearteten „Bauplans“ ergibt.

Leben in Schachteln

Der Antiheld der Kunstgeschichte
"Mona Lisa", 1940-1942: Von Cornell transformierte Version von Leonardos Klassiker in einer Kartondose mit 7,6 cm Durchmesser.
Cornell, der zeitlebens nie weiter als in den Bundesstaat Maine an der US-Ostküste reiste, eignete sich als „Renaissancemensch“ ein enzyklopädisches Wissen über Ballett, Oper, Dichtung und Kunst an.

Sein Werk, das auf dieses Universum in vielfacher Weise Bezug nimmt, lässt sich gewiss als große Ersatzhandlung lesen – der Künstler, der seinen gelähmten Bruder pflegte, der das Haus mit der Mutter teilte und der – laut Biografin Deborah Solomon – bis zu seinem Tod nie Sex hatte, verpasste wohl viel von dem, was man gemeinhin „Leben“ nennt.

Zugleich lassen Cornells Objekte daran glauben, dass sich Leben in der Kunst erhalten kann – der Dialog von Bildern, Skulpturen, Texten funktioniert über (Lebens-) Zeiträume und Orte hinaus. Ein Museum, ob nun als Miniatur-Box oder als großes Haus am Ring, ist in diesem Sinn Lebens-notwendig.

Der Antiheld der Kunstgeschichte
Hans Na
Joseph CornellFernweh“ wurde von Jasper Sharp gemeinsam mit Sarah Lea (London) kuratiert. Sie ist bis zum
10. Jänner 2016 im KHM Wien zu sehen. In der Kunstkammer (Hochparterre) weisen Schautafeln auf historische Objekte hin, die mit Cornells Denk- und Arbeitsweise in Verbindung stehen.

Das Österreichische Filmmuseum besitzt als einzige europäische Institution Original-Filme von Joseph Cornell und zeigt diese am 4. 11., am 11. und am 12. 11.
Der Katalog zur Ausstellung (englisch, inkl. deutsches Beiheft) kostet 35 €.

Die Biografie „Utopia Parkway“ von Deborah Solomon erschien vor Kurzem in überarbeiteter Form (englisch, 18,99 €).

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