Dem Auseinanderdriften sozialer Schichten erfolgreich entgegensteuern

Dem Auseinanderdriften sozialer Schichten erfolgreich entgegensteuern
Vor 20 Jahren initiierten der Airan Berg und Martin Schenk (Armutskonferenz) „Hunger auf Kunst und Kultur“

 Dieser Tage erschien im Verlag des Gewerkschaftsbundes ein roter Ziegel mit dem Titel „Sozialdemokratie. Positionen und Perspektiven“, herausgegeben von Gerhard Schmid und Marcus Schober. Die Liste der Beiträger – von Hannes Androsch über Rudolf Scholten und Gerhard Zeiler bis zu Andreas Babler (Nachwort) – ist lang. Michael Ludwig, der Bürgermeister von Wien, widmet sich der SP-Forderung „Kultur für alle“. Der zehnseitige Text ist in erster Linie aber ein Rückblick auf glorreiche Zeiten: Das Rote Wien! Die Ära Kreisky! Sinowatz! Hawlicek! Die „Glanzzeit des Wiener Theaters“!

Und natürlich Hilmar Hoffmann: 1979 hatte der Frankfurter Kulturdezernent den Schlachtruf „Kultur für alle!“ formuliert. Längst weiß man, dass es sich dabei bloß um eine Wunschvorstellung handelt: 2011 stellte der Soziologe Norbert Sievers bei einer Veranstaltung der SPÖ-nahen Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik nüchtern fest, dass trotz aller Bemühungen, Schwellen abzubauen, das Interesse an Kunst nicht gestiegen sei. Gestiegen sei lediglich die Nutzungsfrequenz des ohnedies kulturaffinen Publikums, und das seien eben fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung.

Hinzu käme – so Sievers 2011 – die soziale Lage. Die Armut reiche bereits in die Mittelschicht hinein. Diese Entwicklung führe dazu, dass immer weniger Menschen am kulturellen Leben teilnehmen könnten. Es sei daher notwendig, Strukturen zu überdenken.

Doch sein Ruf verhallte. Noch immer hält der Bürgermeister am Diktum „Kultur für alle“ fest, das SPÖ-Politiker andernorts in „Kultur für möglichst viele“ abgewandelt haben. Ludwig geht auch auf die Wichtigkeit von Fair Pay ein (das der SPÖ gerade im „roten“ Wien seit Jahrzehnten ein Anliegen hätte sein können). Aber erstaunlicherweise verliert er kein einziges Wort über die Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“, die kürzlich ihr 20-Jahr-Jubiläum feierte.

Am 9. Dezember 2003 initiierten Airan Berg, damals Direktor des Wiener Schauspielhauses, und Martin Schenk von der Armutskonferenz einen Kulturpass, mit dem Menschen in finanziellen Nöten freien Eintritt erhalten. Der Idee schlossen sich nach und nach alle Bundesländer an, mittlerweile umfasst das Angebot 1.200 Kultureinrichtungen. Just in Wien wurden Prügel in den Weg gelegt. Anfang 2006 kündigte der damalige SPÖ-Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny ein Gegenmodell zu „Hunger auf Kunst und Kultur“ an. Weil er nicht zulassen konnte, dass ein Theatermacher die bessere Kulturpolitik macht? Man einigte sich schließlich, und die Wichtigkeit der Aktion ist längst unbestritten: 2022 wurden 50.000 Pässe und mehr als 190.000 Tickets allein in Wien ausgegeben.

Kürzlich bedankte sich eine Frau. Vor mehr als zehn Jahren sei sie als arbeitslose Alleinerzieherin in einer sehr schwierigen Situation gewesen. Mit ihren Kindern konnte sie aufgrund der Aktion durch alle Kindertheater und Museen „tingeln“: „Es hat uns so richtig gutgetan, wir haben wieder Mut und Kraft geschöpft, und die Kinder haben in jungen Jahren schon ,Feuer gefangen‘. Sie sind jetzt groß, und für sie gehört es ganz einfach dazu, immer wieder Museen, Theater, Oper, Konzerte zu besuchen.“ Am Ende schreibt die Frau: „Mit Ihrer großartigen Arbeit steuern Sie dem Auseinanderdriften der sozialen Schichten entgegen.“ Schade, dass im roten Ziegel „Sozialdemokratie. Positionen und Perspektiven“ dafür kein Platz ist.

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