Auf das Kind vergessen

Das Glück der großen Dinge
Henry James’ Sorgerechtsdrama "Das Glück der großen Dinge" spielt im Designer-Ambiente einer wohlhabenden New Yorker Familie.

Der Albtraum jeder Kindheit. Die Eltern vergessen, einen von der Schule abzuholen. Die Mutter wechselt die Schlösser, der Vater drischt gegen die Tür. Streitende Stimmen im Wohnzimmer, wenn man eigentlich schlafen sollte. Der Vater beginnt eine Affäre mit dem Kindermädchen. Die Mutter holt sich einen jüngeren Lover.

Als Henry James seinen Roman „What Maisie Knew“ 1897 schrieb, war in England gerade das Sorgerecht für beide Eltern eingeführt worden. In der feinfühligen Adaption des US-Regie-Duos Scott McGehee und David Siegel entbrennt der Ehekrieg im gegenwärtigen Designer-Ambiente einer wohlhabenden New Yorker Familie. Bemüht darum, möglichst aus der Kinderperspektive von Maisie zu erzählen, halten sie die Kamera viel auf Hüfthöhe, zeigen die Erwachsenen oft nur bis zur Taille. In Onata Aprile haben sie noch dazu eine entzückende Siebenjährige gefunden, deren liebreizendes Gesicht den Blick bezaubert. Mit herzzerreißender Vertraulichkeit lässt sich Maisie hin- und herschieben, und wandert widerspruchslos von einer Hand zur anderen.

Egozentrisch

Die Eltern – zwei egozentrische Endvierziger – interessieren sich in erster Linie für sich selbst. Besonders die hervorragende Julianne Moore spielt die Rockstar-Mutter, deren Karriere nicht mehr so toll läuft, als souveräne Balance zwischen verbiestert und verwundet. In hektischer Atemlosigkeit übergeben sich die Eltern oder deren neue Partner gegenseitig das Kind. Und einmal geht Maisie dabei sogar verloren.

Trotzdem bleibt das Drama der wechselseitigen Beziehungen in sanfter Schwebe, untermalt mit (viel) seelenvoller Musik. Da, wo die Mutter unfähig ist, springt das Kindermädchen als Lichtgestalt ein. Wo der Vater versagt, hält der neue Mann der Mutter – total sympathisch: Alexander Skarsgård – dem fremden Kind die Stange.

Einen Hauch zu sehr verlassen sich die Regisseure allerdings auf die Niedlichkeit des Mädchens, auf das geschmackvolle Ambiente der Upper Class und den makellosen Dresscode gut aussehender Menschen. Die Schönheit der Oberflächen federt das Familiendrama ab, bettet es immer wieder weich ein und lässt es gegen Ende hin fast ins Märchenhafte gleiten.

Henry James’ endet seinen Roman mit der Frage, was Maisie eigentlich wusste. Auch der Film weiß darauf keine Antwort.

Info: USA 2012. 99 Min. Von Scott McGehee, David Siegel; mit Julianne Moore.

KURIER-Wertung: **** von *****

Magie – das weiß jeder Zauberer – ist gezielte Ablenkung. Wer es allerdings übertreibt, läuft Gefahr, das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. So wie Louis Leterriers aufgeblasener Thriller rund um eine Gruppe junger Zauberkünstler, die vor laufendem Publikum Banken ausrauben und das Geld an Bedürftige verteilen. Ein Polizeiinspektor – der knuffige Mark Ruffalo – will die Magier des Verbrechens überführen und beschattet sie.

Leterriers übersmarter Plot schlägt beispielsweise derartig viele Haken, dass man bald die emotionale Fährte verliert. Vom bizarren Ende ganz zu schweigen. Mit kreiselnder Kamera bemüht er sich um die Anheizung des Erzähltempos, unterbrochen von (pseudo-)philosophischem Zauberei-Blabla.

Visuelle Gimmicks, charismatische Drehorte wie New Orleans und gute Schauspieler erzeugen temporäre Spannungsmomente. Doch den großen Bogen hin zum Finale kann Leterrier einfach nicht spannen. Zu viel leeres Abrakadabra.

Info: F/USA 2013. 115 Min. Von Louis Leterrier. Mit Jesse Eisenberg, Mark Ruffalo.

KURIER-Wertung: *** von *****

Ihre „Little Miss Sunshine“-Tage sind endgültig vorbei, denn die 17-Jährige Abigail Breslin steckt als Teenagermädchen Casey in großen Schwierigkeiten – oder genauer gesagt: im Kofferraum eines Wagens, wo sie von einem unbekannten Entführer eingesperrt wurde. Zum Glück hat sie ein funktionstüchtiges Handy bei sich und wispert in Tränen aufgelöst aus ihrem engen Gefängnis um Hilfe, während der böse Mann mit ihr über die Highways rast. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Notruf-Tante Hale Berry. Da sie durch ein früheres Berufserlebnis traumatisiert wurde, nimmt sie besonderen Anteil an dem Fall: Fortan setzt sie alle Hebel und zuletzt auch sich selbst in Bewegung, um Casey zu retten.

Der Arbeitsalltag in einer Polizeinotrufzentrale und der Ablauf eines solchen verzweifelten Wettlaufs gegen die Zeit hätten guten Stoff für einen hochspannenden Film geboten. Leider hat Drehbuchautor Richard D’Ovidio maßlos übertrieben und eine Unwahrscheinlichkeit an die nächste gereiht. Seine Figur des fiesen Mädchenverzahrers wirkt wie ein Kreuzungsversuch zwischen Buffalo Bill aus „Das Schweigen der Lämmer“ und William Lustig’s „Maniac“. Michael Eklund bietet in dieser Rolle die Karikatur eines durchgeknallten Serienkillers mit haarigem Schwesterkomplex. Bis zum Showdown unter einem flatternden Sternenbanner vergeht viel unnötige Gesprächszeit, und ganz zuletzt gibt D’Ovidio auch noch zu erkennen, dass es zumindest den ersten Teil von „Saw“ gesehen hat. So weit, so überflüssig. Da kann man nur belämmert schweigen oder zum Handy greifen und 9-1-1 wählen: „Hallo, Notrufzentrale? Holen Sie mich bitte raus aus diesem Film!“

Info: USA 2013. 94 Min. Von Brad Anderson. Mit: Halle Berry, Abigail Breslin, Michael Eklund.

KURIER-Wertung: ** von *****

"Das Venedig Prinzip"

Es sieht aus wie ein Horror-Effekt aus einem Roland-Emmerich-Film: Ein riesiges Kreuzfahrtschiff von der Größe eines Hochhauses nähert sich Venedig. Und man wundert sich, dass die Menschen nicht kreischend davonlaufen. Heute leben nur noch 58.000 Menschen in Venedig – kaum mehr als nach der großen Pest von 1438. Und es werden immer weniger. Andreas Pichlers sorgfältige Doku mit tollen Protagonisten – wie etwa einem alten Ex-Gondoliere – liefert einen alarmierenden Bericht. Venedig steht das Wasser bis zum Hals – in jeder Hinsicht. Nicht nur aufgrund des Hochwassers; auch ständige Touristen-Überflutungen und falsche Lokal-Politik machen der Stadt schwer zu schaffen. Ein traurig-schöner Blick hinter Kulissen, die immer noch zu den schönsten der Welt zählen.

KURIER-Wertung: **** von *****

"7 Tage in Havanna"

Ein Episodenfilm, der den Alltag der Kubaner widerspiegelt – ihre Freude, ihr Leid. Prominente Filmmenschen wie Laurent Cantet oder Benicio Del Toro (er feiert hier sein Regiedebüt) trugen dazu bei. Nicht alle Geschichten sind gut, sie variieren in ihrer Qualität – aber wer Kuba mag, wird auch diesen Film mögen. Eine ausführliche Kritik zu "7 Tage Havanna" finden Sie hier.

KURIER-Wertung: *** von *****

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