"Chowanschtschina": Nicht jeder Aufzug führt zum Glück

Ferruccio Furlanetto brilliert als Iwan Chowanski in einer Nicht-Inszenierung
Musikalisch top, szenisch ein Flop: Modest Mussorgskys "Chowanschtschina" an der Wiener Staatsoper.

Wer sich dieser Tage die aktuelle Produktion von Modest Mussorgskys "Chowanschtschina" im Haus am Ring ansieht, braucht a) gutes Sitzfleisch, b) starke Nerven und c) viel Fantasie.

A, weil diese Aufführung mit realen fünf, aber mindestens acht gefühlten Stunden zur russischen Schlachtplatte mutiert. B, weil die musikalische Seite schlicht hervorragend ist und emotional unter die Haut geht. Und C, weil man das Werk an der Wiener Staatsoper nicht zu sehen bekommt und damit das "Kino im Kopf" gefragt ist.

Legendär

Aber der Reihe nach: Seit mehr als 20 Jahren war dieses Meisterwerk in Wien nicht zu sehen; die letzte Premiere fand im Jahr 1989 statt. Damals stand der unvergessene Claudio Abbado am Pult, der ebenso unvergessene Nicolai Ghiaurov sang die Partie des Fürsten Iwan Chowanski. Und Alfred Kirchner steuerte eine Inszenierung der Kategorie "Weltklasse" bei.

"Chowanschtschina": Nicht jeder Aufzug führt zum Glück
Oper

2014 ist das ein bisschen anders. Mit Semyon Bychkov steht wieder ein fabelhafter Dirigent am Pult des ebenso fabelhaften, bis ins kleinste Detail perfekt einstudierten Orchesters, mit dem grandiosen Ferruccio Furlanetto als Iwan Chowanski gibt es einen mehr als legitimem, würdigen und logischen Ghiaurov-Nachfolger. Nur szenisch ist dieses große Drama rund um Politik, Macht, Liebe, Intrige und Fanatismus eine einzige Bankrotterklärung.

Regisseur Lev Dodin – er zeigte sich bei der Premiere erst sehr spät und bekam einen Buh-Orkan ab – macht aus diesem Stoff gar nichts. Ein Baugerüst (Ausstattung: Alexander Borovskiy) fährt da stundenlang auf und ab. Wer gerade etwas zu singen oder zu sagen hat, wird per aufwendiger Technik in Richtung Rampe gefahren. Eine Interaktion der Protagonisten, eine Art Personenführung, ein Minimal-Maß an Regie findet nicht statt.

Bilder der Inszenierung

"Chowanschtschina": Nicht jeder Aufzug führt zum Glück

ARCHIVBILD: FOTOPROBE "CHOWANSCHTSCHINA"
"Chowanschtschina": Nicht jeder Aufzug führt zum Glück

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Provinziell

Dafür gibt es unzählige, das Geschehen lähmende, unnötige Zwischenvorhänge, ein mehr als peinliches Ballett (Vorsicht: Pseudo-Nacktheit in Unterwäsche ist noch nicht sexy) und ein Finale (kollektive Selbstverbrennung religiöser Fanatiker), das dem Namen "Finale" gar keine Ehre macht. Warum also "Chowanschtschina"? Man weiß es nicht, man erfährt es auch nicht. Auf dieser "Baustelle Oper" könnte so ungefähr alles stattfinden. Ach so, mit sehr viel gutem Willen kann man einen recht provinziellen Kommentar zum Thema Islam hineininterpretieren.

Nichts hineinzuinterpretieren gibt es hingegen auf der musikalischen Ebene. Dirigent Semyon Bychkov, das wunderbare Orchester, der ideal einstudierte Chor der Wiener Staatsoper, der ebenso gute Slowakische Philharmonische Chor und die großteils tollen Solisten erzählen all das, was man nicht sieht. Und das ist mitunter sehr viel.

So gibt Ferruccio Furlanetto einen Iwan Chowanski , der unter die Haut geht. Ein Mann, der um Würde und Macht ringt, der seinen noblen, kultivierten, schönen, auf Linie geführten Bassbariton in den Dienst Mussorgskys – die Staatsoper wählte die kluge Schostakowitsch-Orchestrierung – stellt.

Sensationell

"Zweiter" Star dieser Aufführung ist Ain Anger, der sich mit der Partie des radikalen Sektenführers Dossifei wohl endgültig und nachhaltig in die erste Reihe der großen Bässe der Gegenwart singt. Dazu kommt der auch stimmlich expressive Herbert Lippert als Fürst Golizyn und die vokal wie darstellerisch ausgezeichnete Elena Maximova als erst liebende, später fanatisch bis zum Äußersten gehende Marfa.

Dass Maximova diese Partie nur bedingt ausspielen darf, liegt an der Nicht-Regie. Wie auch Christopher Ventris als Andrei Chowanski zu unterbelichtet bleibt; der an sich sehr gute Tenor kann sich in dieser Produktion leider kaum entfalten. Ähnliches gilt für Andrzej Dobber als zu biederer Schaklowity.

Norbert Ernst setzt sich als opportunistischer Schreiber über alle szenischen Lähmungsversuche mehr als souverän hinweg. Caroline Wenborne, Lydia Rathkolb, Markus Pelz, Hans Peter Kammerer, Wolfram Igor Derntl, Marian Talaba, Il Hong und Benedikt Kobel komplettieren ein gutes, von Bychkov ideal eingeschworenes und einstudiertes Ensemble.

Was bleibt also von dieser Neuproduktion? Die Erkenntnis, dass die Staatsoper musikalisch nach wie vor in der ersten Liga spielt, szenisch allerdings viel Nachholbedarf hat.

"Chowanschtschina": Nicht jeder Aufzug führt zum Glück
Ferruccio Furlanetto als Fürst Iwan Chowanski im Haus am Ring

Werk Mussorgsky hat seine Oper nicht vollendet. Am Ring wird die Schostakowitsch-Version gespielt.

Dirigat und Gesang Meist auf erstklassigem Niveau.

Inszenierung Inexistent. Eine Verweigerung.

KURIER-Wertung:

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