Teilproteste? Ja, immerhin musste Franco Zeffirellis Jahrzehnte alte, das Geschehen sehr behübschende Folklore-Deutung nun einer eher radikalen Adaption weichen. Denn Bieito räumt in seiner „Carmen“ mit allen Klischees kräftig auf. Da gibt es keine Soldatenromantik, keine entzückenden Schmuggler, keine Torero-Heroisierung.
Bieitos „Carmen“ ist in einem schäbigen Grenzdorf verortet. Auf der fast leeren Bühne (Alfons Flores) weht die spanische Flagge bald auf Halbmast. Wie in Stanley Kubricks Film „Full Metal Jacket“ werden die Soldaten bis aufs Blut drangsaliert. Carmen (im grün-hässlichen Arbeitsmantel unter dem sich dank der Kostüme von Merce Paloma schwarze Dessous verbergen) entsteigt einer Telefonzelle. Die Partys der Outsider – das sind bei Bieito alle – finden auf und in einem alten Mercedes statt; weitere Autos werden dazu kommen. Der Stier ist eine überdimensionale Figur aus Holz, die erst von der Decke fällt, dann von Arbeitern abfällig entsorgt wird.
Escamillo ist hier weniger Torero, denn Vorstadt-Strizzi mit Schlapphut; das übrige Personal besteht aus Nutten und Zuhältern. Und auch aus einem kleinen Mädchen, das traurig unter einem Mini- Plastikweihnachtsbaum sitzt und dem ein Rest von Normalität vorgespielt wird. Carmens Tochter? Oder eine zukünftige Carmen? Egal, denn Hoffnung auf ein besseres Leben gibt es hier ohnehin für niemanden. Das ist packend, das ist beklemmend und auch dank einer exquisiten Personenführung unfassbar gut.
Unfassbar gut sind auch die gesanglichen Leistungen. So ist die georgische Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili (nach überstandener Corona-Erkrankung) eine vokal überaus mächtige, hochdramatische Carmen. Man kann sich die Künstlerin auch perfekt im Wagner-Fach vorstellen; in diesem Ambiente ist sie eine Idealbesetzung.
Als ihren Don José darf man Piotr Beczala (als Einspringer für Charles Castronovo) erleben. Einen besseren Interpreten dieser Partie wird man aktuell wohl kaum finden. Beczalas Tenor hat alles, was man für den Don José benötigt. Eine wunderschöne, grandios zwischen Lyrismen und Dramatik changierende Stimme, fabelhafte Registerübergänge, dazu strahlende, Höhen und einen Schmelz, der seinesgleichen sucht.
Dazu kommen noch Erwin Schrott als viriler, nach wie vor überzeugender Escamillo sowie die exzellente Vera-Lotte Boecker als herrlich singende und resolut auftretende Micaela. Diese Frau ist kein armes Hascherl, sondern eine um ihre Liebe zu José kämpfende Antipodin zu Carmen. Die Sopranistin ist ein echter Gewinn für das Haus.
Stark besetzt sind jedoch auch die kleineren Rollen: Slavka Zamecnikova als Frasquita, Szilvia Vörös als Mercedes, Peter Kellner als Zuniga, Carlos Osuna als Remendado und vor allem Martin Häßler (eine tolle Stimme) als Morales runden dieses Gesamtkunstwerk perfekt ab.
Bleibt also noch Hausdebütant Andrés Orozco-Estrada, der am Pult des animiert spielenden Orchesters etwas Luft nach oben hat. Denn der Symphoniker-Chef setzt zwar auf Tempo und oft auf Lautstärke, atmet aber nicht immer mit den Sängern mit. Das jedoch kann noch werden.
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