"Carmen" an der Wiener Staatsoper: "Grenzen gibt es nur im Kopf“
Der katalonische Starregisseur Calixto Bieito zeigt heute, Sonntag (20.15 Uhr, ORF III), seine Deutung von Georges Bizets „Carmen“ in absoluter Starbesetzung.
Im Normalfall – ja, auch der Autor dieser Zeilen hat allmählich genug vom ewigen Konjunktiv und muss ihn dennoch verwenden – wäre heute ein Festtag für alle Opernfreunde. Denn eine (nicht ganz so neue) Neuproduktion von George Bizets „Carmen“ in der Inszenierung von Calixto Bieito und mit einer Top-Besetzung wie Anita Rachvelishivili (Carmen), Piotr Beczala (Don José), Erwin Schrott (Escamillo) oder Vera-Lotte Boecker (Micaela) und mit Andrés Orozco-Estrada am Dirigentenpult (sein Debüt am Ring) hätte die Wiener Staatsoper wohl mit Glanz gefüllt.
So aber findet – in Zeiten der Pandemie – diese Premiere immerhin via Live-Stream (18 Uhr, kostenlos unter play.wiener-staatsoper.at) und ORF III (ab 20.15 Uhr, live-zeitversetzt) statt. Der KURIER traf Calixto Bieito im Schwindfoyer des Hauses und mit negativem Corona-Test zum Interview.
KURIER:Herr Bieito, es gab im Vorfeld dieser Produktion viel Aufregung. Sie mussten den ursprünglich angesetzten Tenor ersetzen, dann erkrankte Anita Rachvelishivili an Corona, die Proben mussten ausgesetzt werden – wie war diese Erfahrung für Sie?
Calixto Bieito: Die Proben waren letztendlich – trotz aller Probleme – großartig. Was für Sänger hat die Staatsoper denn da? Sie sind alle fabelhaft! Diese Sänger, dieses vollendete Orchester, dieser Dirigent! Ich kann da nur dankbar sein.
Dennoch ist und bleibt es vorerst eine Fernsehpremiere ...
Ich hoffe, dass wir diese ,Carmen‘ aber bald vor Publikum präsentieren können. Es hätten sich alle Mitwirkenden so sehr verdient.
Haben Sie ihre Inszenierung für die TV-Kameras adaptiert?
Nein! Ich bin meinem Konzept treu geblieben. Denn wir wollen Oper und Theater für das Publikum machen, und ,Carmen‘ begleitet mich nun schon eine geraume Zeit.
Was sind für Sie die zentralen Aspekte in dieser Oper?
In ,Carmen‘ geht es um die Grenzen, die Grenzen in unseren Köpfen. Daher spielt unsere ,Carmen auch in einer Grenzregion. Denn die Grenzen gibt es nur im Kopf. Wir sind schon damals für diese Produktion an die Grenze zwischen Spanien und Marokko gereist, um dieses Gefühl zu bekommen. Carmen ist absolut frei, das behauptet sie und das bezahlt sie mit dem Tod. Letztlich geht es aber auch nur um einen simplen Mord aus Eifersucht.
Und der Stier?
(lachend) ... ist wichtig! Aber wir sitzen hier in diesem wunderschönen Haus, im Schwindfoyer. Da fühle ich mich schon sehr privilegiert. Dieses einzigartige Ambiente, diese herrliche Architektur! Das hat mich ja erst zur Oper und zum Theater gebracht. Damit ja alles angefangen.
Inwiefern?
Ich war als kleines Kind mit meinem Vater – er ist leider schon verstorben – in der Höhle von Altamira, ein paar Kilometer westlich von Santander. Sie ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Und diese Höhlenmalerei aus der Steinzeit hat einen großen Eindruck auf mich hinterlassen. Damals wusste ich, dass ich etwas mit Kultur machen möchte.
Schon damals als Regisseur?
Ich habe mich schon damals für die Architektur interessiert. Diese Liebe ist mir bis heute geblieben. Vielleicht wäre ich auch Architekt geworden, aber es kam anders. Jetzt bin ich kein Architekt, habe jedoch viele Kunstjournale abonniert. Immerhin etwas!
Sie sind immerhin ein Starregisseur geworden
Einer, der in Wien überaus glücklich ist. Diese Stadt, dieses kulturelle Erbe, dieses Denken; so etwas macht sehr glücklich. Und ich möchte auch besser Deutsch sprechen können.
Franco Zeffirelli
Die bis dato letzte Neuproduktion von Georges Bizets Oper „Carmen“ in der Regie von Franco Zeffirelli hatte am 9. Dezember 1978 ihre Premiere im Haus am Ring. Seitdem haben an der Wiener Staatsoper alle Künstlerinnen und Künstler von Weltrang in dieser Produktion gesungen
164 Vorstellungen
An so vielen Abenden war Franco Zeffirellis klassische Deutung im Laufe der Jahrzehnte zu sehen. Die letzte Vorstellung in dieser Inszenierung fand am 12. September 2018 statt
Calixto Bieito
Die international gefeierte Inszenierung des spanischen Regisseurs kam im Jahr 1999 heraus und ist u. a. nach San Francisco,
Barcelona, Boston erstmals in Wien zu erleben. Es singen u. a.: Anita Rachvelishivili, Piotr Beczala, Erwin Schrott, Vera-Lotte Boecker. Dirigent ist Andrés Orozco-Estrada
Gibt es dafür eventuell auch künstlerische Gründe?
Staatsoperndirektor Bogdan Roščić und ich sind in guten Gesprächen. Und es wird nach der ,Carmen‘ wieder etwas kommen. Aber ich möchte in Wien auch Theater machen. Reines Sprechtheater!
Zum Beispiel?
Da kann ich mir vieles vorstellen. Wünsche aber wären: ,Die letzten Tage der Menschheit‘ von Karl Kraus oder die ,Italienische Nacht‘ von Ödön von Horváth. Und bei den großen Opern gibt es auch extrem viel zu tun. Ich bin etwa ein absoluter Liebhaber von Oratorien, die man szenisch umsetzen könnte. Aber als Nächstes kommt in München ,Der Dekalog‘. Ich habe nicht eine Zeile umgeschrieben, dafür ist mir dieses Werk viel zu heilig. Ich versuche, bei jeder meiner Inszenierungen den Intentionen der jeweiligen Schöpfer gerecht zu werden. Das mag mitunter ein bisschen hart sein, aber das gehört aber auch zum Leben.
Glauben Sie, dass die Corona-Pandemie auch die Kulturlandschaft nachhaltig verändern wird?
Ich bin kein Prophet. Aber ich hoffe, dass ich doch positive Energie aussenden kann und konnte. Ich bin kein Arzt, kein Virologe. Dass Theater so stattfinden kann, macht mich unendlich glücklich. Ich denke, dass die Theater ein sehr sicherer Ort sind. Aber natürlich zeigen auch wir Privilegierten, die arbeiten dürfen, in Zeiten der Pandemie Solidarität. Nur gemeinsam kommen wir durch diese Krise.
Aber das Live-Erlebnis fehlt doch sehr ...
Absolut. Ich denke, dass all dieses Streaming niemals den Live-Moment ersetzen kann. Wir leben zwar in einem Zeitalter der Digitalisierung, aber sollten wissen, wie und wofür wir die Technik benützen. Jeder von uns hat auf dem Handy ja eine kleine Bibliothek von Alexandria zur Verfügung. Das ist zwar sehr schön, kann aber nie das Blättern in einem echten Buch ersetzen.
Sie selbst nützen in manchen Ihrer Arbeiten aber auch die digitalen Medien ...
Ich habe das einmal in Spanien gemacht. Da haben wir in der ganzen Stadt und an ungewöhnlichen Plätzen Leinwände aufgestellt und aus dem Theater übertragen. Die Idee dahinter war: Wenn 3.000 Leute an so einer Leinwand vorbeigehen, bleiben einige vielleicht stehen und schauen zu. Und wenn von denen, die zusehen, dann nur drei auch real in die Oper kommen, haben wir schon viel erreicht. Insofern schaue ich der Übertragung der ,Carmen‘ extrem positiv entgegen.
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