Burg-Direktor Martin Kušej: „Man läuft Gefahr, geköpft zu werden“
Wenn Martin Kušej ein Buch über sich und seine Regiearbeiten schreibt, kann es nur mit „Buh“ beginnen. Geradezu ein Buh-Orkan hob im Jänner an, als „Tosca“ auf der Bühne des Theaters an der Wien im römischen Schneegestöber versank. Der Ruf, ein Provokateur zu sein, ein Berserker, ein Stückezertrümmerer, begleite ihn seine ganze Karriere hindurch, so Kušej in „Hinter mir weiß“. Aber er hätte die „Tosca“ nicht nur auseinandergenommen, sondern auch wieder (neu) zusammengesetzt. Das macht er generell gerne. Aber: „Meine Provokationen sind immer das Ergebnis einer Liebe.“
Ganz glaubt man es ihm nicht. Denn schon ein paar Seiten später bekennt er ein, dass er in jungen Jahren keine Angst davor gehabt hätte, sich „an den Klassikern zu vergehen“. Und gegen Ende schreibt Kušej, dass sich damals ein Gutteil seines Strebens darum gedreht habe, „Etabliertes nicht einfach nur zu überwinden, sondern in die Luft zu sprengen“. Im Gespräch über sein Buch, in dem er anhand zehn zentraler Begriffe wie Identität, Körper und Sprache seinen Werdegang erzählt, ist das Raubein, 1961 in Wolfsberg geboren, aber ungleich sanftmütiger.
KURIER: Wurden Sie aus Zufall Regisseur? Denn in Graz übersiedelten Sie vom katholischen Studentenheim in eine WG – und einer der Mitbewohner studierte Regie.
Martin Kušej: Nicht ganz. Schon mit 17 schrieb ich Stücke, die bei uns im Dorf beim „Fastlwirt“ gespielt wurden. Und nach der Matura hab’ ich kurz damit geliebäugelt, Schauspieler zu werden. Aber wegen meines Kärntner Dialekts habe ich mir das nicht zugetraut. Ich habe also in Graz ganz bieder Germanistik und Sportwissenschaften inskribiert. Drei Jahre später und ohne echte weitere berufliche Perspektive habe ich mich wieder an die alte Theater-Faszination erinnert …
Sie hatten auch eine Portion Glück. Denn der Leiter des Faches Regie, Walter Czaschke, fehlte bei der Aufnahmsprüfung an der Hochschule aufgrund einer Erkrankung.
Er nahm immer nur einen Studenten auf. Und nun wurden vier zugelassen, darunter ich. Als er davon erfuhr, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Und er merkte immer wieder an, dass er keinen von uns aufgenommen hätte. Aus einer riesigen Streiterei ist dann eine Freundschaft geworden. Und schließlich war er richtig stolz auf mich.
Sie sollten als Übung einen Dialog in einem Auto inszenieren – und scheiterten zunächst. Czaschke sagte dann den Satz: „Und, hast du ein Auto?“ Aber ist Theater nicht immer Imagination? Gert Voss und Ignaz Kirchner haben für „Endspiel“ mit Kreide die Situation angedeutet – und das hat voll gereicht.
Ich lernte ja erst! Die Reduktion, die Kraft der Zeichenhaftigkeit, die kreative Umsetzung – das muss man erst einmal begreifen! Meinen Studierenden am Max-Reinhardt-Seminar versuche ich verständlich zu machen, dass, wenn da „Spielt in einem Auto“ steht, man längst kein Auto braucht. Dennoch: Bühnenbilder können schon faszinierend sein!
Ihr Lieblingsbühnenbildner ist seit Grazer Zeiten Martin Zehetgruber.
Wir haben unsere Theatersprache gemeinsam entwickelt. Irgendwann, nach ungefähr 70 Inszenierungen, braucht man aber auch einmal eine „Beziehungspause“. Dann habe ich viel mit Annette Murschetz gearbeitet, auch mit Rolf Glittenberg, Jessica Rockstroh … und für meine nächste Inszenierung macht Raimund Orfeo Voigt das Bühnenbild. Eine hochinteressante, neue Begegnung.
Ihr Buch ist zum Teil eine Autobiografie. Sie schreiben auch darüber, dass Erinnerungen täuschen können. In Stuttgart eilten Sie einem Mann zu Hilfe, gaben die Geschichte gegenüber den Polizisten aber nicht so zu Protokoll, wie sie sich ereignet hatte. Und danach mussten Sie beobachten, wie Ihre damalige Geliebte von einem Mann im Mercedes-Cabrio abgeholt wurde. Tatsache?
Diese Geschichte hat sich so zugetragen! Aber Sie haben den Punkt getroffen: Meine Geschichten haben einen realen Ausgangspunkt, und dann geht meine Fantasie mit mir durch. Das ist die Faszination des Schreibens: Geschichten verselbstständigen sich, nehmen einen unerwarteten Verlauf, bleiben aber noch immer meine Geschichten – weil ich sie aufschreibe! Für mich als Theatermacher ist das zentral wichtig: meine Erlebnisse, Reisen, Träume dienen mir als Material, um Geschichten zu erzählen.
Stimmt die Geschichte mit Claus Peymann? Sie bewarben sich in der Burg als Regieassistent – und er meinte, dass er in Ihrem Alter die 100 Meter schneller gelaufen sei.
Ja, das war ein schlimmes Bewerbungsgespräch. Er wollte eben einen schnellen Regieassistenten. Im Nachhinein – nun als Direktor auf der anderen Seite des Tisches – kann ich Peymann verstehen: Der Enthusiasmus eines jungen Menschen, der gleichzeitig darüber schimpft, wo er herkommt, ist vielleicht kontraproduktiv. Und meiner war auch dem Peymann wurscht. Aber so habe ich wenigstens eine schöne Geschichte!
Sie schreiben: „In den nächsten zehn Jahren sollte ich das Burgtheater nicht mehr betreten.“ Aber dann, unter Peymanns Nachfolger, feierten Sie dort große Erfolge. Klaus Bachler überhäufen Sie geradezu mit Lob.
Diese Peymann-Zeit wird mir einfach zu sehr beweihräuchert. Ich war – denke ich – ein prägender Regisseur der Direktion Bachler. Und die war auf ihre Art genauso gut. Und sehr politisch! Im Jahr 2000, nach der Bildung der ÖVP-FPÖ-Koalition unter Wolfgang Schüssel, hatten wir eine neue, andere gesellschaftspolitische Herausforderung. Klaus Bachler hat das Haus für performative Formen, für Diskussionen, Konzerte usw. geöffnet. „Glaube und Heimat“, „König Ottokars Glück und Ende“, „Höllenangst“ – das waren lauter starke politische Kommentare zur Situation …
Die Werkstattberichte über Inszenierungen vor Jahrzehnten in Deutschland interessieren weniger. Wären nicht jene Arbeiten interessanter, die man in Wien sehen konnte oder noch immer sehen kann? Angefangen vom „Weibsteufel“ …
Es sind tatsächlich Teile rausgefallen, weil das Buch sonst zu umfangreich geworden wäre. Da muss ich wohl noch ein Buch schreiben …
Bei Ihren Ausführungen zu „Maria Stuart“ schreiben Sie nicht „meine Inszenierung“, sondern „mein Stück“. Wird ein Stück durch Ihre Interpretation zu Ihrem Stück?
In gewisser Weise: Ja. Ich bin kein Theaterwissenschaftler. Trotzdem würde ich zu dieser etwas ungenauen Ausdrucksweise, die weder mir noch der Lektorin aufgefallen ist, stehen. Natürlich sind mein Respekt und meine Liebe zu Schiller immens, aber unsere „Maria Stuart“ im Burgtheater ist auch „mein“ Stück – mit allem, wie es auf der Bühne steht, also zum Beispiel mit den nackten Statisten. Ich bin nicht der Ersatz, sondern der Katalysator für Schiller.
Sie verwenden die nicht gegenderten Wörter Schauspieler, Besucher, Behinderte, Migranten. Warum?
Normalerweise gendere ich. Ich habe die Problematik durchaus verinnerlicht – das ist doch der wichtige Punkt!
Und Sie sagen, dass im Theater alles möglich sein muss, weil es Spiel ist. Also darf jeder einen Juden oder einen Schwarzen spielen?
Selbstverständlich! Grundsätzlich halten wir im Burgtheater Diversität hoch. Gleichzeitig wünsche ich mir, dass man Schauspielern und Schauspielerinnen zugesteht, in Rollen schlüpfen zu können, die mit ihren privaten Lebenssituationen nichts gemein haben.
Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Lieber nicht. Denn für jedes missverständliche Wort läuft man mittlerweile Gefahr, geköpft zu werden …
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