"Bürgerliches Trauerspiel" im Werk X
Das Schauspiel auf der fast leer geräumten Bühne im Werk X beginnt verhalten, verständlich, denn nach der Corona-Zwangspause muss das Aktionstheater Ensemble erst einmal warmlaufen, auf Touren kommen. Das Stück hätte nämlich bereits im Mai uraufgeführt werden sollen: Der Lockdown und Covid-19 haben die Premiere aber immer wieder nach hinten verschoben. Das wiederum hat dazu geführt, dass der Inhalt nach und nach der „neuen Normalität“ (Sebastian Kurz) angepasst wurde.
Das Stück nennt sich aber weiterhin „Bürgerliches Trauerspiel“ und ist nach der Uraufführung in Bregenz Anfang September nun auch in Wien zu sehen. Premiere war am Dienstagabend. Die Texte hat Martin Gruber - wie gewohnt - mit den Schauspielern erarbeitet: Das ist eine seit Jahren sehr fruchtbare Zusammenarbeit - ein verlässlicher Seismograf für gesellschaftliche Veränderungen.
Wann beginnt das Leben? Diese Frage stellt Regisseur Martin Gruber in den Mittelpunkt des rund 70 Minuten dauernden Theaterabends. Dabei lässt er das wieder stark aufspielende Ensemble (Michaela Bilgeri, Horst Heiß, Thomas Kolle, Benjamin Vanyek) über das bürgerliche Leben in Zeiten der Pandemie nachdenken. Die Krise wurde thematisch in die kritische Auseinandersetzung mit dem Bürgertum integriert, was sich als Glücksfall herausstellte. Denn in Ausnahmesituationen werden Bruchstellen in der Gesellschaft eben klarer sichtbar.
Tempo
Nach dem eingangs erwähnten Warm-up, einer Akklimatisierungsphase auf der Bühne, die viele Schauspieler lange Zeit nicht betreten durften, wird wieder in die Hände gespuckt – und es geht mit viel Tempo durch die Tagebücher und Alltagsgeschichten der Protagonisten, die allesamt vom Virus infiziert wurden. Soll heißen: Jeder hat seine eigene (traurige, witzige, wütende, absurde) Corona-Geschichte zu erzählen - zwischen kurzfristig lieb gewonnenem Krisenmodus, neu gewonnener Freizeit (weil keine Arbeit), einsetzender Verzweiflung und der Suche nach dem Sinn im eigenen Leben: Will man nach dem Lockdown eigentlich noch so weitermachen wie davor?
Das Bürgertum auf der Bühne ist verunsichert, ist sich aber sicher, dass Banken und Versicherer "alle Arschlöcher" sind. Der Alkoholkonsum ist im Lockdown nicht gerade weniger geworden, die langjährige Liebe am Virus endgültig zerbrochen und die aktuelle Bundesregierung (am Dienstag durch Vizekanzler Werner Kogler im Publikum vertreten) nicht mehr so schlimm wie die vorige.
Diese emotionale Achterbahnfahrt wird von der Live-Musik auf der Bühne (Nadine Abada, Kristian Musser und Alexander Yannilos) entweder geschickt unterbrochen oder gefühlvoll verstärkt.
Aufstand
Im Zentrum dieser unterhaltsam aufbereiteten, klugen und bissigen Ist-Analyse steht das Bürgertum, das es sich über Jahre gemütlich in ihrer eigenen Blase eingerichtet hat. Dadurch ist es saft- und kraftlos geworden. Einen Aufstand gibt es nur noch, wenn das Bio-Brot beim Bäcker oder die glutenfreien Bio-Nudeln beim Bobo-Supermarkt ums Eck aus sind. Von der Fortschrittlichkeit, die man dem Bürgertum zugestanden hatte, ist so gut wie nichts mehr vorhanden.
Martin Gruber ist mit dem Ensemble eine intensive und sehr stimmige Produktion gelungen, die einen enormen Sog entwickelt und gegen Ende für Aktionstheater-Verhältnisse depressiv ausfällt. Ein Trauerspiel eben. Jubel!
Noch bis 3. Oktober im Werk X. Alle Termine sind ausverkauft. Weitere Vorstellungen sind aber geplant.
Bürgerliches Trauerspiel im Werk X - Wann beginnt das Leben?
Text: Martin Gruber, Aktionstheater Ensemble und Wolfgang Mörth
Regie: Martin Gruber
Es spielen: Michaela Bilgeri, Horst Heiß, Thomas Kolle, Benjamin Vanjek. Musik: Kristian Musser, Nadine Abado, Alexander Yannilos.
Dramaturgie: Martin Ojster, Andreas Erdmann
Musik: Kristian Musser, Nadine Abado, Alexander Yannilos
Bühne, Kostüme: Valerie Lutz
Regieassistenz: Tanja Regele, Hacer Göcen
Noch bis 3. Oktober im Werk-X
1120, Oswaldgasse 35A
Telefon: (01) 535 32 00-11
www.werk-x.at
Kommentare