Die 45-jährige New Yorkerin beschreibt die Überlebensgeschichte einer jungen Frau namens Lamentatio, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Leibeigene englischer Siedler nach Nordamerika kommt. Vermutlich geht es bei dem hier beschriebenen Dorf um einen Außenposten von Jamestown, der historisch verbrieften ersten dauerhaften englischen Siedlung in Nordamerika. Als dort Pocken und eine Hungersnot, die in Kannibalismus mündet, ausbrechen, flieht das Mädchen. Ausgerüstet mit Messer, Beil und guten Stiefeln, schlägt sich die junge Frau durch die Wildnis. Neben Hunger, Kälte und zunehmender körperlicher Schwäche (samt ausführlich beschriebener Ausdünstungen) plagen sie schreckliche Erinnerungen, aber auch Sehnsüchte nach Zwischenmenschlichkeit, gelindert oft durch Träume und Halluzinationen, die sie ihr tatsächliches Ausgeliefertsein vergessen lassen. Ziel hat sie keines.
Irgendwo im Norden vermutet sie französische Siedler, vage versucht sie, sich in deren Richtung zu bewegen. Dabei begegnet sie einmal einem halb zum Tier gewordenen Menschen, andere Male weiß sie sich von Autochthonen beobachtet. Vor Wölfen beschützt sie ein Feuer, eine Bärin, der sie sich nähert, interessiert sich nur andeutungsweise für sie. Sie ernährt sich von Beeren und Wildtieren, deren Fleisch sie zu räuchern weiß. Der Kenntnisreichtum, mit dem Lamentatio (ein wohl beabsichtigt unpassender Name) in der Natur zu überleben vermag, ist überraschend – diese Anmerkung muss sich dieser hochgelobte Roman gefallen lassen.
Im Wald überleben ist eine Frage von Erfahrung, meist in jahrhundertelangen Traditionen von Ureinwohnern weitergegeben. Empfohlen seien an dieser Stelle die Romane von indigenen nordamerikanischen Autoren wie Michel Jean, der über Nomadenstämme wie die Innu und ihre ausgeklügelten Überlebenstaktiken schreibt.
Zurück zu Lauren Groff: Die Frage, ob das Überleben einer jungen Europäerin in der nordamerikanischen Wildnis wahrscheinlich ist – geschenkt. Sagen wir, es handelt sich um eine Utopie, inspiriert von der Tradition des amerikanischen Nature Writing eines Henry David Thoreau. Oder eben ein Märchen. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen sprachlich ambitionierten, faszinierenden Trip in einen mystisch-finsteren Märchenwald, wo – eine Lieblingsszene – ein Bär im Mondlicht selbstvergessen einen Wasserfall beobachtet.
Und die vermutliche Botschaft der Autorin, wie winzig der Mensch angesichts des großen Ganzen doch ist, geht auch in Ordnung. Denn während wir kleine Erdenbürger alles Mögliche mit uns und unserer Umgebung anstellen, macht die „Welt in ihrer sich ewig erneuernden und vollkommen gleichgültigen Schönheit einfach weiter.“