Erzählt wird die Dorf-Geschichte von einer Elfjährigen, die ihre Umgebung beobachtet, was zunächst wie ein Schelmenroman anmutet. Klingt naiv, deckt Abgründe auf. Kinder spielen mit einem Messer aus der großväterlichen Waffenkammer, auf dem „Meine Ehre heißt Treue“ steht und die Oma ist immer noch stolz, dass 1938 hier so gut wie alle für den Anschluss waren.
Anders als vieles, das über das finstere Landleben in Österreich veröffentlicht wurde, ist dieses Buch – zunächst – sehr lustig. Es wird viel gekärntnert, stets in Kursivschrift, was vielleicht ein bisserl penetrant ist. Verblödelt wird diese Geschichte vom Aufwachsen eines jungen Menschen, dem man einredet, er sei ein Mädchen, aber keineswegs. Denn so, wie Kinderspiele tödlich ausgehen können – das Nazi-Messer landet im Bauch des kleinen Franzi – ist auch das Dorfleben am Fuße der Karawanken nicht so idyllisch, wie man es den Touristen einredet. Eher im Gegenteil. Lebenslügen und Gaunereien will man im Schnaps ertränken, wie der Bürgermeister, der im Suff seine Gelegenheitsaffäre, die Buschenschank-Marlene anruft, um allerhand zu beichten: „I hob mi vielleicht a bissl vaton. In olm eigentlich.“
Doch abgesehen von gelegentlichen Anflügen von Gewissensbissen: Hier im Dorf ist man noch stolz auf die Väter, die bei der Waffen-SS waren – und hat ihre sogenannten Arierausnachweise aufgehoben. Anerkennung der Slowenen, zweisprachige Ortstafeln? Sind hier, in den 1990ern, weit, weit weg. Und wer nicht zur Landjugend und schnell in den Kärntner Anzug will, um „no a Schnapsele“ zu trinken, der bleibt Außenseiter. So wie der Bruder der Erzählerin, ein Langhaariger, der ebenso wenig von Volkstracht und darin durchgeführten Trinkritualen wissen will, wie sie von Kleidern und Barbiepuppen. Sie liebt ihr BMX-Rad und ihre Freundin Luca. Letzteres ist natürlich ein Geheimnis, doch die Identitätsfindung der Erzählerin steht hier nicht im Vordergrund. Eher die Geheimnisse und Abgründe aller anderen.
Das eigene Grab
Die 42-jährige gebürtige Kärntnerin Julia Jost, bisher vor allem als Dramaturgin und Regisseurin tätig, startet mit ihrem ersten Roman ganz oben, beim gewichtigen Suhrkamp Verlag, der ihr ein Lob von Elfriede Jelinek auf den Buchdeckel druckte: Dieser Roman sei von „heiterer Bösartigkeit“.
Ungern möchte man eine Literaturnobelpreisträgerin korrigieren. Aber bösartig ist dieser Roman nur ein bisschen. Sagen wir so: Man versteht, dass Jost nicht mehr in ihrer alten Heimat lebt. Aber dieses Buch ist mehr. Neben bösartig und heiter auch ziemlich finster. Dabei aber niemals larmoyant, sondern verständnisvoll vielen (nicht allen) Figuren gegenüber, schließlich geht es um deren Leben. Die Szene, in der die Mutter, chronisch übermüdet und verzweifelt über den notorisch untreuen, lieblosen Vater, sich mit eigenen Händen ein Grab neben jenem des kleinen Franzi gräbt und sich zum Schlafen hineinlegt, gehört zu den eindrucksvollsten, die man zuletzt gelesen hat. Sie und ihre Autorin wird man sich merken.