Er hingegen, der andere namenlose Protagonist dieser Geschichte, verliert sein Augenlicht. Langsam, aber stetig. Seit Jahren weiß er, dass er eines Tages erblinden wird.
Zwei Menschen in Angst. Die koreanische Dichterin Han Kang erzählt in ihrem Roman „Griechischstunden“ eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die ihren Ausgangspunkt in einem Altgriechischkurs hat. Er der Lehrer, sie die Schülerin. Er kämpft mit dem Hin - und Hergerissensein zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen. Deutschland, wo er seine Jugend verbrachte und Korea, wo seine Wurzeln liegen und er heute wieder lebt. Sie hat vor Kurzem ihre Mutter, das Sorgerecht für ihren neunjährigen Sohn und zum zweiten Mal in ihrem Leben ihre Sprache verloren.
Der Ausdruck, dass einem etwas die Sprache verschlagen kann, kommt nicht von ungefähr. Und so geht es in dieser Geschichte um Menschen in Ausnahmesituationen, um Sprache und ihren Verlust und um neue Wege, sie wiederzufinden. Etwa, indem man mit der Fingerspitze Worte in die Handfläche des anderen schreibt. Sachte kommen die beiden einander näher.
In der FAZ war unlängst ein Text über sogenannte „Blurbs“, zu lesen. Kurztexte, verfasst von Verlags-PR-Leuten oder Autoren, um Bücher zu bewerben. Dabei gebe es „Codewörter“, die in Wahrheit etwas anderes bedeuten. So kam das Wort „eindringlich“ in Verruf. Denn dieses „wolle in Wahrheit sagen, dass das Buch völlig humorlos“ ist. An dieser Stelle muss man den geschätzten Kolleginnen energisch widersprechen. Han Kang schreibt in der Tat „eindringlich“. Ihr in knappen Sätzen gehaltener Roman ist poetisch, melancholisch und wunderschön, er geht unter die Haut. Und ist zugleich voll zartem Witz.
Der Psychotherapeut, vermutet die Protagonistin, will sie wahrscheinlich als „Fallbeispiel in einem Buch“ unterbringen. Deswegen erzählt sie ihm nur die halbe Wahrheit, wenn überhaupt. Es genügt, dass er weiß, was ihre Mutter ihr während der ganzen Kindheit erzählt hat: Dass sie „beinahe nicht geboren“ worden wäre. Da frohlockt das Therapeutenherz!
Nicht nur in Wien, der Wirkungsstätte Sigmund Freuds, behauptet man, dass praktisch alle Probleme durch unbewusste Konflikte entstehen, die auf die Kindheit zurückgehen. Dass Han Kangs Protagonistin von den simplen Schlussfolgerungen ihres Therapeuten wörtlich „schlecht“ wird und sie letztlich verstummt, hat, trotz aller Tragik, einigen Witz. Und wenn wir schon bei Freud sind: Weder Libido noch Todestrieb spielen in diesem Roman eine Rolle. Trotzdem, ganz große Empfehlung.