„Der Liebesbrief“ ist die erste von neun mehr oder weniger dystopischen Kurzgeschichten in George Saunders’ „Tag der Befreiung“. Das Buch versammelt Erzählungen, die irgendwo in der nahen Zukunft spielen, weshalb sie zwar schlimm, aber keineswegs unvorstellbar sind. Da ist die Mutter, die einen unschuldigen Kerl zum Krüppel schießt, weil sie ihn verdächtigt, ihren Sohn angerempelt zu haben. „Ciao, politische Korrektheit. Das hier war der heiße Scheiß.“
Da ist der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird, und da ist die sehr skurrile Story von Jeremy, der gefesselt an einer Wand hängt und via Mikrofon Dinge verkünden muss, die ihm seine Arbeitgeber vorschreiben. Unter anderem, wie schön die Hausfrau ist. Jeremy macht das gerne. Das Ende, der „Tag der Befreiung“, ist noch irrwitziger als sein bisheriges Dasein.
George Saunders kennt das Gewöhnliche im Leben ebenso wie das Sonderbare. Er kennt die Menschen in ihren alltäglichen Nöten, und er kennt die Geister, die sie begleiten. Das hat er schon in „Lincoln im Bardo“ bewiesen, diesem bewegenden Roman über Abraham Lincoln am Grab seines Sohnes, für den er 2017 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde.
Und natürlich hat auch einer wie Saunders seine Lehrmeister. Etwa Tschechow und seine Novelle „Stachelbeeren“, aus der der Titel von Saunders’ letztem Buch stammt: „Bei Regen in einem Teich schwimmen,“ eine Art Schreibwerkstatt zum Nachlesen. Seit mehr als zwanzig Jahren lehrt Saunders kreatives Schreiben. Nicht zuletzt anhand von Tolstoi, Gogol, Tschechow und Turgenjew, von dem er unter anderem lernte: „Eine Geschichte mit einem Problem ist wie ein Mensch mit einem Problem. Interessant.“ Und ja, Probleme haben alle hier in diesem schillernden, streckenweise herausfordernden Erzähluniversum.
Ein Wort zum Übersetzer: Frank Heibert, der zuletzt Richard Fords „Valentinstag“ wunderbar ins Deutsche übertrug, trifft auch hier den Ton punktgenau: Schnoddrig-scharf.