Auch Gespenster auf dem Friedhof wollen kuscheln
Es ist Bürgerkrieg, und am Tag, als sowohl von den Nord- als auch von den Südstaaten 1000 Soldaten sterben, stirbt im Weißen Haus
Willie, der elfjährige Sohn des Präsidenten Abraham Lincoln, an Typhus.
So war das, 20. 2. 1862.
Abraham Lincoln hat in der Gruft auf dem Friedhof von Oak Hill seinen toten Sohn noch einmal aus dem Sarg und in den Arm genommen.
So war das angeblich.
Und damit hatte die Geistergeschichte „Lincoln im Bardo“ das Substrat, um zu keimen. Was für ein unbekannt gewesenes Buchstabengewächs aus Verzweiflung und Moder wurde daraus! Dafür gab es den Man Booker Prize für den besten englischsprachigen Roman.
Wobei der auf Kurzgeschichten spezialisiert gewesene Amerikaner
George Saunders nie erklärt, was der Bardo ist.
Das Tibetische Totenbuch bezeichnet damit den Zwischenzustand nach dem Tod bis zum Wiederdasein. Das Bewusstsein lebt noch, wie ein freigelassenes Wildpferd ist der Geist. Auch jenes Zwischenreich, in dem sich der Präsident befand, könnte gemeint sein: Er trauert, soll aber das gespaltene Amerika führen.
Ungewöhnlich. Ungewöhnlich gut. Man gewöhnt sich rasch an die Art, in der erzählt wird: Es reden fast nur Tote ... die auf dem Friedhof verweilen und nicht wahrhaben wollen, dass sie tot sind; die im Leben (noch) nicht das hervorgebracht haben, was in ihnen gesteckt ist.
Auch an deren Geschichte wird man teilhaben.
In diesen Chor drängen sich Zeitzeugen, mischt sich Historisches mit Erfundenem, sodass nicht einmal Saunders heute mehr weiß, was was ist.
Die Toten reden Willie Lincoln zu, er möge rasch ins nächste Leben verschwinden: Der Bardo sei nichts für Kinder, weil Kinder sich nicht gut gegen die Dämonen auf dem Friedhof wehren können.
Aber Willie möchte auf seinen Vater warten, vielleicht kommt Abraham Lincoln ja noch einmal. Auch ein
Gespenst will kuscheln.
Deshalb schwirren die anderen Gespenster ins Weiße Haus, in den Präsidenten hinein, und versuchen, ihn dazu zu bewegen, loszulassen bzw. Willie gehen zu lassen.
Das tut ganz schön weh beim Lesen. Da kommt einiges hoch.
Liebe, Angst. Da kommt auch die Frage hoch: Wie kann man lieben, wenn SO WAS droht?
Abraham Lincoln im Buch: „Alle Geschenke sind nur vorübergehend. Ich gebe dieses nur unwillig zurück. Und danke dir dafür. Gott. Oder Welt. Wer immer es mir gegeben hat ...“
George
Saunders:
„Lincoln
im Bardo“
Übersetzt von Frank Heibert.
Luchterhand.
448 Seiten.
25,70 Euro.
KURIER-Wertung: *****
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