Sie waren viele Monate ein Pflegefall. Sind Sie jetzt „Ein Mann ohne Beschwerden“, entsprechend dem Titel Ihres Buches?
Der Titel ist eine ironische Volte. In der sogenannten Literatur gibt es nur wenige AutorInnen, die nicht von Beschwerden schreiben. Rationalisiert nennt man das „Kritik.“ Die meisten Beschwerden kommen aus Rachebedürfnissen. Man rächt sich an der Welt, indem man einen Text formuliert, der diese Welt in allen Schauerlichkeiten zeigt. Da bin ich mit dabei! Aber mein Titel stammt von Plato, der schön, aber vergeblich versucht, aus den Lauten den Sinn der Worte herauszuholen: „Die „Beschwerde“ sieht wohl jeder, dass sie die Schwierigkeit des Werdens darstellen soll.“
Der Titel meines Buches ist daher rein platonisch.
Sie beschreiben mit der Krankheit auch den Zustand des Nichtfunktionierens. Eine interessante Erfahrung?
Das Wesen von Erfahrungen ist, dass sie „interessant“ sind. Denn unter Erfahrung versteht man etwas, das einen Unterschied macht, eine Erfahrung macht man dadurch, dass sie sich von eingespielten Erfahrungen unterscheidet. Im Sinne meines Markenzeichens ist es eine Erfahrung, dass durch den Lärm um den Ärzte- und Pflegemangel das existenzielle Leid der Patienten übertönt wird. Dieses Getrommel sollte man nicht einstellen, sondern als das sehen, was es ist: Übertönungen der Conditio Humana, dass der Einzelmensch unter Umständen nicht mehr funktioniert. Davon einen Begriff zu haben, sowohl einen medizinisch-technischen, als auch einen moralischen, steht einer Gesellschaft, die sich für zivilisiert hält, gut an.
Also ja, eine interessante Erfahrung. Das schreiben Sie übrigens selbst, mit genau diesen Worten.
Das Wort „interessant“ ist von beleidigender Inhaltsleere. Was ich interessant finde, sind diese Patienten-Kleidchen. Sie sind eine globale Erscheinung. Das weiß ich als Fernsehsüchtiger. Ich sehe ja so gerne Arztserien, und stelle fest, von Atlanta bis Stockholm haben sie die gleichen Kleidchen. Es dürfte ein durchgehender Spitalsgeschmack existieren, mit dem man die Patienten gnadenlos einkleidet.
Sie sind seit vielen Jahren bekennender Fernsehsüchtiger. Schauen Sie nach wie vor so viel?
Leider nicht State of the Art, ich habe kein Netflix und kein Amazon. Ich sehe Alltagsfernsehen, 55 Sender, und alle haben das gleiche Programm. In der sogenannten „Information“ sind es überhaupt dieselben Nachrichten. Das könnte man eigentlich einstellen, das kann die KI übernehmen.
Aber geht es nur um Inhalte? Wollen die Leute nicht auch Nadja Bernhards neue Brille sehen?
Aber ja, Nadja Bernhards Brille ist hoch-interessant. Und dann sind da die Politikanalysten mit ihren geschniegelt gesprochenen Aufsätzen. Das Geheimnis dieser Redeleistungen hat Walter Benjamin aufgedeckt, als er über die Medien sagte, nicht was sie bringen, sei interessant, sondern dass sie was bringen.
Lässt sich damit auch beschreiben, warum Sie immer noch so viel fernsehen, trotz Inhaltsleere?
Das ergibt sich – wie meine Leselust – aus meiner Einsamkeit in der Jugend. Fernsehen kompensiert manipulativ Einsamkeit, siehe die Gilmore Girls: Sie stellen einen Zusammenhalt in der Kleinstadt dar. Ununterbrochen wird kommuniziert. Und die Tatsache, dass die schöne Frau Gilmore den etwas abgewrackten Lokalbesitzer ehelichen wird, zeigt, sie rücken einander unaufhörlich näher.
Haben Sie während Ihrer Krankheit Arztserien geschaut?
Nein, ich hatte genug reale Ärzte in Serie. Ich habe „Küchenschlacht“ geschaut, wo Amateure, begleitet von Superköchen, wunderbare Dinge kochen.
Hat sich das auf Ihre Verfasstheit ausgewirkt?
Ich war heiter, bis das Mittagessen kam.
Sie schreiben, Sie wissen jetzt etwas über den Tod.
Ich habe immer etwas über den Tod gewusst. Er hat mich immer beschäftigt. Er ist die Einbahnstraße, die das Leben geht.
Sie schreiben auch, Sie haben jetzt keine Angst mehr vor ihm.
Im Augenblick nicht. Ich sehe den Ablauf des Lebens jetzt als eine Alltagsgeschichte – wie von Toni Spira.
Ist es ja auch.
Ist es natürlich nicht. Weil der Tod ein Skandal ist. Weil er all die Mühen, die jemand in seinen Lebenslauf investiert hat, mit einem Schlag vergessen macht. So lange man unter ärztlicher Aufsicht selbst von der Todesgefahr betroffen ist, ist man durch die Schmerzmittel in einer anderen Welt. Da weiß man nicht, dass man gerade am Sterben ist. Am ehesten gibt es Verweise auf den Tod in der Intensivstation, weil die LeidensgenossenInnen sterben.
Sie beginnen Ihr Buch mit Gedanken des Philosophen Blaise Pascal ausgerechnet über das Glück. Wo man es denn fände, außerhalb, mit Vergnügungen, oder innerhalb von einem selbst. Am ehesten, so Pascal, noch bei Gott. Was macht ein Mensch, der nicht an Gott glaubt?
Pascal sagt eine Wahrheit. Nämlich dass es jede Menge Theoreme gibt, die sagen: Glück ist, wenn ... Es gibt viele Vorstellungen, wie man sein Leben günstig zu Ende bringt. Aber erst am Ende, wie Montaigne sagt, kommt heraus, ob es geglückt ist. Alle diese Theoreme haben etwas Richtiges, aber man kommt um die Erfahrung nicht umhin, dass sie im Grunde nicht funktionieren. Es gibt für das geglückte Leben keine Anweisungen, mit denen man sichergeht. Pascal hat anstelle dieser Anweisungen die Zerrissenheit des Menschen thematisiert: eine Zerrissenheit zwischen der Transzendenz und der Immanenz. Das Schöne an Pascal ist, dass er die Zerstreuungen des Menschen nicht verdammt – angesichts der anderen Menschenmöglichkeit: Gott. Wenn die Transzendenz einen locken sollte, ist es gut, wenn nicht, geht“s mit der Zerstreuung auch (nicht). Weil die Existenz ein eigengesetzliches, ein sich selbstverwaltendes Übel ist.