„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ entwickelt sich verschachtelt aus einer Rahmenhandlung: Zwei Teenager, nicht direkt Außenseiter, aber auch keine Stars (sie, ganz Manga-Schulmädchen-Report, ist zierlich, zartnasig, großäugig und trägt Faltenrock), verlieben sich und führen eine lose Beziehung, in der sie viel reden und sonst kaum was tun (er würde schon gerne, aber sie wissen nicht wo und haben außerdem viel zu besprechen, und so bleibt dem 17-Jährigen nur, oft mit feuchter Unterhose aufzuwachen). Sie erzählt ihm von einer Stadt mit hohen Mauern (sie bestehen, wie man sehen wird, aus menschlichen Ängsten), die nur betreten kann, wer seinen Schatten zurücklässt, und in deren Bibliothek Träume lagern. Hier lebt das wahre Ich des Mangamädels, und hier heuert der Erzähler nun als Traumleser an. Die zarte Mangamaid erkennt ihn aber nicht – wie auch, sie ist ja, wie sich herausstellt, nicht einmal der Schatten ihrer selbst.
Der Mann im Wickelrock
Der unglücklich Verliebte will in Tokio ein neues Leben beginnen. Logisch, dass ihn die Erinnerung an Zartnase nie verlässt. Murakami schreibt gern über Männer, die stehengelassen werden. Warum er dafür jetzt wieder 640 Seiten braucht? Es kommen Einhörner vor. Und banale Dialoge, die in dieser von Symbolen aufgeladenen Story besonders dürftig wirken. Typisch Murakami: Magischer Realismus trifft auf unterkomplexe Alltagssprache. Ein sterbender Schatten sagt: „Mist.“ Der Roman kommt erst im zweiten Teil in die Gänge (aber nicht sehr). Dreißig Jahre nach dem Verlust des Mangamädels stellt sich der Erzähler seinen inneren Parallelwelten. Er kündigt seinen Job, um in einer Provinzbibliothek zu arbeiten. Trifft einen (vermutlich toten) Bibliotheksdirektor im Wickelrock und einen Buben im Yellow-Submarine-Pulli. Sein anderes Ich? Man verliert die Orientierung zwischen den Parallelwelten. Fix ist nur: Ich ist ein anderer.
Der Japaner Haruki Murakami ist mehr als ein Bestsellerautor. Vom Time Magazine einst unter die 100 einflussreichsten Menschen der Welt gewählt und mindestens so oft wie Margaret Atwood als Nobelpreiskandidat gehandelt, versammelt er eine Glaubensgemeinschaft um sich. Mitglieder verehren ihn. Andere finden seine esoterisch angehauchten, vorhersehbar unvorhersehbaren Plots betulich. In seinen besten Momenten sind Murakamis Ideen aber tatsächlich großartig durchgeknallt.
Das goldene Einhorn
Der Legende nach hat Murakami, der damals mit seiner Frau in Tokio ein Jazzlokal führte, 1978 bei einem Baseball-Match die plötzliche Eingebung gehabt, er könne schreiben. Seither tut er das, mit enormem Erfolg und einer „Prise Jazz“, wie er sagt. Der kommt hier immerhin in Form von einschlägigem Namedropping vor. Chat Baker. Und sonst: Verlorene Schatten, goldene Einhörner. Als Begleiter eines Mannes auf Selbstsuche eher mittelgut geeignet. Der schönste Moment kommt erst am Ende. Der Yellow-Submarine-Bub beißt ihm ins linke Ohrläppchen. Und sagt wenig später: „Das Herz ist wie ein junges Kaninchen auf einer Frühlingswiese.“