Charlie Kaufmans Roman "Ameisig" spinnt

Charlie Kaufmans Roman "Ameisig" spinnt
Es geht - nebenbei - um einen Film, der drei Monate dauert, aber man darf zwischendurch auf die Toilette

Bei Fritz Lehner war das ähnlich: Als Regisseur hatte er österreichische Filmgeschichte geschrieben („Das Dorf an der Grenze“, „Mit meinen heißen Tränen“ über Schubert).

Aber er hielt das Filmgeschäft nicht aus.

Als Schriftsteller muss sich der Oberösterreicher nicht dreinreden lassen, er kann das Tempo bestimmen, er braucht nicht ums Budget zu betteln.

Lehners Thriller, beginnend mit „Dr. Angst“, sind etwas Einmaliges im Land.

Xien

Vom Amerikaner Charlie Kaufman - Foto oben bei Preisverleihung - stammt das Drehbuch zu „Being John Malkovich“, und für seine Arbeit zu „Vergiss mein nicht“ (mit Jim Carrey und Kate Winslet) hat er den Oscar bekommen.

Auch ihn nervt das Geschäft. Deshalb schrieb er seinen ersten Roman. Er heißt „Ameisig“. 850 Seiten!

Es ist so verrückt, so außergewöhnlich verrückt, dass man aus Angst mit dem Buch nicht allein gelassen werden will. Zunächst.

Bald aber merkt man, dass es einem nicht nur nichts tut, sondern eine Zeitlang mit einfallsreichen Witzen amüsiert. Hier verstört jemand mit Leidenschaft.

Kaufman und „Ameisig“ verdienen Respekt bis zum letzten Wort. Applaus auch. Liebe wird es keine.

Verrät man das bisschen Handlung, hat man genau über jenen Teil gesprochen, der den Roman NICHT ausmacht. Unter den Rest muss man sich stellen wie unter kaltes Wasser. Sehr erfrischend; wenn man ein klein wenig masochistisch ist.

Der New Yorker B. Rosenberger Rosenberg ist über 50, glatzköpfig, Hakennase, höchst erfolglos als Filmkritiker, und er hat einen kleinen Penis. Betont er selbst immer. Und allen sagt er, dass er eine schwarze Freundin hat. Und dass er kein Jude ist. Und dass er sich lieber nur B. nennt, denn B ist xien.

Explosiv

Das heißt: Der Vorname B. sagt nichts übers Geschlecht aus, und was geschlechtsneutral ist, ist im Buch xien. Es gibt viele xien im Buch (im US-Original: thon).

Einen 119-jährigen lernt B. in Florida kennen, der in seiner kleinen Wohnung mit 3000 Puppen 80 Jahre lang einen Film gedreht hat. Einen drei Monate dauernden Film. Auf die Toilette darf man gehen.

B. darf ihn sehen. Danach stirbt der Alte. B. mietet einen Lkw, um Filmrollen und Puppen nach New York zu schaffen . Um erstmals Bedeutsamkeit zu spüren.

Aber Nitrofilme sind hochexplosiv.

Alles verbrennt.

B. ’s Gesicht sah einmal anders aus. Mit seiner Penisvorhaut kann immerhin die Nase neu gebaut werden.

Der Rest sind Versuche, den kompletten Film im Kopf zu restaurieren. Ihn nachzuträumen bis zur Schlussszene mit einer Ameise als letzten Erdbewohner.

Der Roman nimmt viele Umwege, B. redet und redet und fällt in einen Kanal . Was man generell sagen kann:

Er handelt von dir und mir (und von Billy Joel).

Aber hoffentlich mehr von dir.


Charlie Kaufman:
„Ameisig“
Übersetzt von
Stephan Kleiner.
Hanser Verlag.
864 Seiten.
35 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

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