Woher die Wut? Das außerirdische Leben, über das wir seit Jahrzehnten in Büchern und Filmen sehnsüchtige Vorhersagen machen, will und will keinen Kontakt mit uns aufnehmen. Wir sind, so müssen wir uns eingestehen, vollkommen allein in der Dunkelheit.
Es ist wahrscheinlich nicht für ihre Leistungen in Sachen Erbauungsliteratur, für die die englische Schriftstellerin Samantha Harvey nun mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden ist. Ihr Roman „Umlaufbahnen“ verlangt seinen Protagonisten das Äußerste ab. Nämlich die Kraft, an das Leben zu glauben. Schwierig, insbesondere, wenn man von der Annahme, der eigene Planet stehe im Zentrum von allem, zum Bewusstsein gelangt, dass er doch nur einer von vielen ist.
„Umlaufbahnen“ erzählt von einer Forschungsreise. Sechs Astronautinnen und Astronauten, zwei Frauen und vier Männer aus unterschiedlichen Nationen, umkreisen in ihrer Forschungsstation neun Monate lang die Erde, um Antworten auf größere und noch größere Fragen zu bekommen. Erstere haben etwa mit wissenschaftlichen Experimenten zu tun, zweitere mit Überlegungen wie: Was ist das Leben ohne die Erde? Was ist die Erde ohne die Menschheit? Und was soll das eigentlich alles?
Das Leben, heißt es an einer Stelle, sei eine „Reihe von Illusionen und Tricks und Kniffen innerhalb eines Bewusstseins, das versucht, das Leben mittels Wahrnehmung und Träumen und Kunst zu verstehen.“ Und Tricks braucht es jede Menge, um die Illusion Leben aufrechtzuerhalten. Harvey berichtet von einem einzigen Tag in der Forschungsstation, von Morgensport über Wissenschaft bis Klo putzen. Nicht den Verstand zu verlieren, verlangt Disziplin. Ein geregelter Tagesablauf, gebunden an die koordinierte Weltzeit. Wer an einem Tag 16 Mal die Erde umkreist, 16 Sonnenaufgänge und 16 Sonnenuntergänge sieht, der muss seinem Verstand einen Anker geben.
Harvey schreibt über die Schönheit des Alls und die betörende Schwerelosigkeit, auch im übertragenen Sinn. Eben noch haben ihre Raumforscher Sehnsucht nach den Menschen da unten, nach ihrer Familie. Doch dann: Wie verführerisch ist der Gedanke, alles loszulassen, für immer im All zu blieben.
„Orbital“, so der Titel der englischen Originalausgabe„ wurde von der Literaturkritik in England und den USA gefeiert. Rechtzeitig zur deutschen Ausgabe ist jetzt auch der Booker Prize da. Den euphorischen Jurybegründungen kann man sich nur anschließen. „Umlaufbahnen“ ist ein schmales und zugleich ganz großes Buch. Und trotz aller Herausforderungen letztlich eine Liebeserklärung an das Menschsein.