Bachmannpreis: Milchstau und Babykrähen
„Depperter Baumarkt!“ – „Ich versteh gar nicht mehr, wovon die Rede ist.“ – „Ich will radikal widersprechen!“ – „Dieser Bachmannpreis ist seine eigene Parodie.“ – „Der ganze Bachmannpreis ist ein einziger Widerspruch!“
Auch der zweite Lesetag in Klagenfurt zeigte, was Literatur alles auslösen kann. Neben großem Kabarett auch große Emotionen zu allerlei Lebens- und Sinnfragen.
Überlegungen zu „angeberischen“ Adjektiven und der Existenz von „Waldkühen“ leiteten den Tag ein. Gleich zu Beginn gab es eine schöne Auseinandersetzung über den Text der Berlinerin Sophie Stein, die auf Einladung von Jurorin Mara Delius „Die Schakalin“ über eine Reisebegegnung zweier Menschen auf einer Fähre las.
Insbesondere das Ende, ein medizinischer Korrekturprozess, sorgte für Ratlosigkeit. Der Text spiele mit Mitteln der fantastischen Literatur, verteidigte ihn Delius. Juror Thomas Strässle war trotzdem „enttäuscht“, Juryvorsitzender Klaus Kastberger äußerte den Verdacht, dass „der Text einem philosophisch literaturwissenschaftlichen Seminar entlaufen“ sei. Er habe dabei an Nestroy denken müssen: „Es gibt Texte, die haben das Sonntagsg’wandl an“ – so wie der vorliegende. Außerdem leide der Text an der Krankheit „Adjektivismus“ und sei „leicht angeberisch“.
„Bin selbst angeberisch“
Juror Philipp Tingler, der sich bereits als Konkurrent zu Kastberger in Sachen pointierter Wortmeldungen herauskristallisiert hat: „Ich habe nichts gegen den angeberischen Ton, vielleicht, weil ich selbst angeberisch bin.“ Er habe ein anderes Problem, nämlich mit dem Verhältnis der Figuren, zwischen denen es keine Dynamik gebe. Die Adjektiv-Kritik kommentierte er so: „Ich verstehe Literatur als Entwurf einer Welt, und darin kommen Adjektive vor.“ Brigitte Schwens-Harrant unterstützte die Kritik Kastbergers und bemängelte die Dramaturgie des Textes, der etwas Unheimliches aufbaue, aber nichts daraus mache.
Freundlicher aufgenommen wurde der Text „Eine Treppe aus Papier“ von Henrik Szant, der, halb Ungar, halb Finne, als Autor und Literaturvermittler in Hannover lebt. Er las auf Einladung von Mara Delius von einem Haus, das sich erinnert. Vergangenheitsbewältigung und zwischenmenschliche Beziehungen waren hier die Themen. Jurorin Laura de Weck sah einen Text „gegen das Schweigen“, Mithu Sanyal fühlte sich „an der Hand genommen“, und für Klaus Kastberger war der Text gar „fulminant“, er erinnerte ihn an Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“. Juror Tingler bemängelte den Schluss: „Klischeehaft und kitschig.“
Aversion Baumarkt
Auf Tinglers Einladung las der deutsche Autor Denis Pfabe, der Wert auf die Feststellung legt, dass er gelernter Einzelhandelskaufmann ist und im Vorstellungsvideo bei seiner Tätigkeit als Gabelstapler im Baumarkt zu sehen war. Auch im Text gings um Einschlägiges. „Die Möglichkeit einer Ordnung“ erzählte vom Kosmos Baumarkt, was gemischte Reaktionen hervorrief. Brigitte Schwens-Harrant sah im Baumarkt eine „Art Paradies-Versprechen“, Mithu Sanyal hingegen ihre Geduld strapaziert. Tingler vermutete daraufhin, dass „manche hier den Text nicht verstanden“ hätten – man müsse ihn surreal lesen. Jury-Chef Kastberger konnte nichts damit anfangen, er fand den Text schlicht „langweilig“: „Ich hasse Baumärkte. Ich bin nicht der richtige Leser für diesen Text.“ Was zur Frage führte, ob man eine persönliche Aversion über den Baumarkt in die Textkritik einbringen dürfe. „Nein“, fand Mara Delius, für die der Text „perfekt“ war.
Nicht weniger umstritten war der Text der Berlinerin Olivia Wenzel, die auf Einladung von Laura de Weck „Hochleistung, Baby“ las. Darin interviewt eine Frau einen Ex-Fußballer auf einem Fischkutter, mit dem dieser Ausflugsfahrten veranstaltet. In weiterer Folge geht es unter anderem um einen schmerzhaften Milchstau, den der Ex-Fußballer beseitigt.
Klaus Kastberger lobte den Text als „interessant und voll ironischer Hintergründe“, Mara Delius hielt ihn jedoch für ein „sehr erwartbares Thesenstück über Rassismus, Mutterschaft, Sexualität. Wenn man den Milchstau weglässt, ist das eine total konservative literarische Form.“ Bald stritt man über das Thema objektiv nachvollziehbarer Kriterien versus literarischer Vorlieben, was Tingler so kommentierte: „Wir sind wieder einmal an dem Punkt, wo dieser Bewerb seine eigene Parodie wird. Vielleicht ist das die richtige Geisteshaltung, um diesem Bewerb zu bebegeben.“ Kastberger trocken: „Du bist nicht dran.“
Gulag und Corona
Als Letzte las die Wienerin Kaska Bryla auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text „Der Kakerlakenschwarm“ über eine kranke Ich-Erzählerin, die sich vorstellt, ein Kakerlakenschwarm fräße sie von innen heraus langsam auf. Corona, der Gulag und ein Krähenbaby kamen im Text (Letzteres auch im Vorstellungsvideo) vor.
Philipp Strässle kritisierte die Metapher, die die Autorin für Corona verwendete, den Gulag: „Ich finde das geschmacksmäßig am Rande.“ Für Mithu Sanyal war das Gleichnis hingegen „unheimlich bewegend“, Jurorin De Weck gefiel, dass der Text kaum Punkte setzte. Tingler urteilte allerdings: „Das war Bachmann 1984.“ Er ortete „Selbstbezüglichkeit“ – was Brigitte Schwens-Harrant vehement zurückwies: „Überhaupt nicht!“ Uneins war man sich des Weiteren, ob der Text deprimierend sei. Dafür sprach das Weinen an Ende, dagegen die vielen Tiere, so Schwens-Harrant. Was auch nicht alle begeisterte. Klaus Kastberger: „Und was ich von Krähenküken halte, das sag ich Ihnen jetzt nicht.“