Anne Weber: Vom Leben jenseits des Pariser Autobahnrings

Eine Frau mit lockigem Haar und einem Schal steht vor Bäumen.
„Bannmeilen“, der neue Roman der mit dem deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichneten Autorin und Übersetzerin

Sie ist zu einer typischen Pariserin geworden: Anne Webers Erzählerin kam vor vielen Jahren aus Deutschland, lebt nun ein Bobo-Leben mit Mini-Appartement in der Stadt, Galerien-Besuchen und Cafés. Über den Péripherique, den Autobahnring, die unausgesprochene Stadtmauer, ist sie nie hinausgekommen. Nicolas Sarkozy sagte einmal, sobald man Franzose werde, habe man gallische Vorfahren. Er meinte: Die französische Geschichte wird die eigene. Gilt das auch für die Menschen jenseits des Autobahnrings? Wo sich in den riesigen Cités 3000, 4000 Wohnungen in zwölfstöckigen Betonkästen übereinanderstapeln?

Mit ihrem alten Freund Thierry, einem franko-algerischen Dokumentarfilmer, begibt sie sich auf Entdeckungsreise. Begleitet ihn durch die Vorstädte des Départements Seine-Saint-Denis, über die properen, Einfamilienhaus gesäumten Vororte hinaus zu den Autobahnzubringerschleifen, den Wellblechdörfern und den Sperrmüllhalden, die sich vor Wohnanlagen türmen. Wo sogenannte chouffeurs, gewerbsmäßige Späher in Plastiksesseln herumlümmeln und Dealer vor der Polizei warnen, und wo es kaum Geschäfte, aber Hühnerspieße, gegrillt auf umfunktionierten Einkaufswagen, zu kaufen gibt.

Doch „Bannmeilen“ ist kein Touristenausflug durch ein Inferno, nach dem man wieder ins Bobo-Zuhause zurückkehrt. Anne Weber erzählt sachte, leise-humorvoll und sorgfältig von der Erkundung einer neuen, widersprüchlichen Welt. Ohne zu urteilen, ohne Schwarz-Weiß zu malen. Natürlich: Die Gigantomanie des sozialen Wohnbaus, das Arbeiter- und Einwanderelend, der Drogenhandel. Aber da ist noch so viel mehr. Sie berichtet etwa vom algerischen Olympiasieger, der auf dem von Müllhalden umgebenen muslimischen Friedhof von Bobigny begraben ist. Jene ehemalige Industriehochburg, wo Asterix-Schöpfer Albert Uderzo aufwuchs und wo man unlängst Reste eines gallischen Dorfes fand. Und wo jetzt für Olympia 2024 gebaut wird.

Und immer wieder ist da dieses Café, wo der schweigsame Rachid seine Gäste versorgt, die wohl nicht viel im Leben haben, aber einander mit Handschlag begrüßen. Am Ende liest die Erzählerin in einer Kirche linkisch hingekritzelte Fürbitten und schließt sich ihnen an: „Lieber Gott, beschütze bitte ... “ – ja, auch Rachid und seine Kneipengemeinde. BB

Das Cover des Buches „Bannmeilen“ von Anne Weber zeigt eine urbane Szene.

Anne Weber: Bannmeilen

Matthes & Seitz

301 Seiten, 26,50 Euro