Daseinskampf
„Wann singt ein Jude?“, fragte man daheim in Ost-Galizien. „Der Jude singt, wenn er Hunger hat.“ Also oft. Die Armut säte schon im Sechsjährigen ein Gefühl für Ungerechtigkeit. Zum Daseinskampf der Gemeinschaft gesellte sich individuelles Hässlichkeitsgefühl. Als er sechzig Jahre später durch den Pariser Jardin du Luxembourg schlendert, fragt Sperber sich, ob schon in diesem Minderwertigkeitsgefühl sein Interesse für Individualpsychologie wurzelte, bei deren Gründer Alfred Adler Sperber später studierte und mit der er noch später brach.
Ebenso wie mit dem Kommunismus, dem er sich aus juvenilem Idealismus angeschlossen hatte. Den Zusammenbruch des Kommunismus hat der 1984 Verstorbene nicht mehr erlebt, er wurde aber einer seiner bekanntesten Abtrünnigen. Zweifel waren früh da. Über den Sommer 1918 schreibt er: „Gewiss, man war für die russische Revolution, obwohl sie vorderhand nicht hielt, was sie versprochen hatte; (...) Doch es war Sommer, und wir Jungen, wir waren glücklich.“ Für alles Amerikanische pflegte man eine „rebellische Verachtung“. Die jedoch keineswegs dazu führte, dass prominente Kommunisten später die von ihnen gepriesene Sowjetunion als Fluchtland wählten. „Sie pilgerten nach dem fernen Amerika.“ Sperber selbst ging, nach Jahren in Wien und Berlin, nach Paris, wo er mit dem KP-Propagandisten Willi Münzenberg sowie dem Schriftsteller Arthur Koestler arbeitete, bevor er unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse dem Kommunismus abschwor. Er blieb Teil der Pariser Intellektuellenszene und verfolgte deren Ideen, unter anderem jene der Schriftsteller André Malraux und André Gide, einem der präsentesten Publizisten seiner Zeit. Ausgerechnet in seiner Gegenwart schläft er peinlicherweise einmal ein, als Entschuldigung hat er nur ein „blöd-geniertes Lächeln“ parat. Ja: Unterhaltsam ist dieser kluge essayistische Rückblick nämlich auch.