Verstörende Liebeserklärung an eine Kreatur namens Mensch

Schöne Bilder vom hässlichen Leben: Alain Platels „Tauberbach“ ist noch am 19. und 20. Juli im Wiener Volkstheater zu erleben
Mit "Tauberbach" von Alain Platel sorgt ImPulsTanz für einen furiosen Festival-Auftakt.

Auch so kann Theater sein. Hässlich und schön, brutal und zärtlich, verstörend und berührend, gnadenlos und gütig, demütigend und würdevoll, animalisch und göttlich zugleich. Denn in seiner Arbeit "Tauberbach" untersucht Choreograf Alain Platel die Kreatur Mensch in all ihren Facetten. Und in einem Umfeld, das grausamer kaum sein könnte, denn Platel geht bewusst an die Grenzen der Zivilisation.

Müllhalde

Auf einer Müllhalde vegetieren sie vor sich hin: Sechs Gestalten, gefangen in ihren Körpern, in ihren Defekten, ihren Deformationen. Estamira steht an ihrer Spitze. Sie hört Stimmen, streitet mit Gott, knallt ihm ihre Verzweiflung entgegen. "I do not agree with life!", heißt es da einmal. Der Off-Stimme ist das herzlich egal. Ein Entkommen ist unmöglich. Nur in der Musik gibt es kurze Momente von Glück. Sonst regieren harter Sex, nackte Gewalt, Exzesse aus Lust und Grobheit, doch irgendwie auch kindliche Zuversicht.

Schizophrenie

Zwei Themen nehmen Platel und seine Compagnie Les ballets C de la B als Basis für ihre visuell, musikalisch und körperlich furiose Reise in eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Zum einen Marcos Prados berührende Film-Doku "Estamira" über eine schizophrene brasilianische Müllsammlerin, zum anderen Artur Zmijewskis Musikprojekt "Tauber Bach", bei dem Gehörlose Werke von Bach interpretierten.

Platel (Konzept, Regie, Bühne) verbindet diese beiden Pole zu einem Kosmos der Grausamkeit. Alte Kleider, schwarze Farbe, von der Decke hängende Mikrofone, schwebende Gerüstplanken – ein schmutziges, trostloses Umfeld hat der belgische Starchoreograf in höchster Stringenz kreiert. Urlaute werden immer wieder hörbar; zu einer "richtigen" Sprache findet nur die schizophrene Estamira. Doch auch ihre Worte sind oft verzerrt, passen zu ihren Müll-Mitbewohnern, die sich in spastischen, epileptischen Bewegungen üben. Der Mensch, das Universum, ist nicht vollkommen, so scheint Platels Botschaft zu lauten.

Empathie

Das klingt gefährlich nach Voyeurismus, ist es aber in keiner Weise. Ja, Platel stellt seine Protagonisten aus, tut dies aber mit unendlicher Liebe, Empathie und poetischer Ruhe. Szenen voller Dramatik wechseln da virtuos mit Augenblicken der Stille.

Die Reinheit von Bachs Musik konterkariert (in verzerrter Weise) den Dreck des Seins. Am Ende erklingt sogar ein Mozart-Sextett, live gesungen. Ein Funken Hoffnung keimt auf. Das Göttliche in Mozarts Musik – gibt das nicht auch einen Hinweis auf Gott, auf eine höhere Macht, die den Menschen zumindest einen letzten Rest von Würde gönnt? Man könnte es fast glauben.

Selbstentäußerung

Und doch steht nicht das Metaphysische im Zentrum von "Tauberbach", sondern das Körperliche. Wie die fünf Performer Bérengère Bodin, Elie Tass, Lisi Estaras, Romeo Runa sowie Ross McCormack über Mimik, Gestik, Verrenkungen und tänzerische Bewegungen echte (namenlose) Charakter entwickeln, ist sensationell.

Personalisiert ist nur Estamira, die von der großartigen belgischen Schauspielerin Elsie de Brauw bis zur völligen Erschöpfung und Selbstentäußerung verkörpert wird.

Bei "Tauberbach" fügen sich Schauspiel, Tanz und Musiktheater zu einer spannenden, optisch eindrucksvollen, höchst musikalischen Bestandsaufnahme über den Zustand der Menschheit. Das inkludiert viel Schmerz und wirkt sehr lange nach.

KURIER-Wertung:

INFO: www.impulstanz.com

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