Auf der Suche nach dem, was gewesen sein könnte

Patrick Modiano begibt sich in "Der Horizont" auf eine mysteriöse Reise in eine nebelverhangene Vergangenheit.

Es war zu einer Zeit, als man ein Schild an die Tür der Buchhandlung hängen konnte: „Liebe Kunden, bitte kommen Sie etwas später wieder.“

(Auch ohne genaue Zeitangabe weiß man: Das muss lange her sein. Heutzutage muss ein Buchhändler jeden einzelnen Kunden auf Händen ins Geschäft tragen).

Patrick Modianos Geschichten sind nahezu immer Reisen in die Vergangenheit. Erneut macht sich der 1945 geborene, mehrfach ausgezeichnete (zuletzt mit dem österreichischen Staatspreis für europäische Literatur) Franzose nun auf die Suche nach dem, was gewesen sein könnte.

In den frühen Sechzigerjahren siedelt er seinen Roman an. Er ist so etwas Ähnliches wie eine verlorene, rätselhafte Liebesgeschichte: „Der Horizont“ ist mysteriös und undurchsichtig wie ein seltsamer Traum. Magisch.

Schon der erste Satz betört und zieht hinein in diesen nebelverhangenen Trip:

„Seit einiger Zeit dachte Bosmans an gewisse Episoden seiner Jugend ...“

Dass Modianos altmodische, wunderbare sprachliche Eleganz auch auf Deutsch zu verführen vermag, liegt an der erstklassigen Übersetzung von Elisabeth Edl. Egal, ob heutige Leser den Ausdruck „Boche“ verstehen: So schimpften die Franzosen die Deutschen früher eben. Und der gemeinen Küchenschabe tut es gut, wenn man ihr die letzte Silbe nimmt und satt dem weiblichen einen männlichen Titel gibt: „Der Kakerlak“; wie aus einer anderen Zeit klingt das!

Lückenhaft

In einem schwarzen Moleskin-Notizbuch zeichnet Erzähler Bosmans auf, was ihm in seiner lückenhaften Erinnerung durch den Kopf geht. Als junger Mensch arbeitete er in der Buchhandlung eines kleinen Pariser Verlages. Bei Tumulten nach einer Demonstration traf er die rätselhafte Margaret Le Coz. In der Pariser Metro wurden die beiden nebeneinander an die Wand gedrückt, sie blutete an der Augenbraue. Er half ihr später, das Pflaster zu entfernen und begleitete sie einige Zeit durchs Leben, bis sie ihm entglitt.

Unvollständig ist seine Erinnerung an die verlorene Freundin, die ihre Gelegenheitsjobs als Sekretärin und Kindermädchen oft wechselte und ständig auf der Flucht vor einem Verfolger war, der sie angeblich einmal mit einem Messer bedroht hatte.

Auch er, Bosmans, fühlte sich seit seiner Kindheit auf der Flucht vor seiner Mutter und deren Begleiter, einem „aus der Kutte gesprungenem Pfarrer“. Ob sich die beiden Verfolgten deshalb zueinander hingezogen fühlen?

Margaret, geboren in Berlin als Tochter einer Französin, verschwand eines Tages spurlos, als einer ihrer Arbeitgeber, ein esoterisch angehauchter Arzt, verhaftet wurde. Sie stieg in den Zug und kehrte nicht mehr zurück.

Modiano klärt nie auf, was wirklich war.

Das Gewesene bleibt stets Möglichkeit.

Auf der Suche nach dem, was gewesen sein könnte
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Als er einer Frau aus der Vergangenheit begegnet, die in einem Café ein paar Tische weiter sitzt, würde er sie gerne ansprechen, aber er kann sich nicht erinnern, ob er sie damals, vor vierzig Jahren, mit Vor- oder Nachnamen anredete.

Doch man nimmt ihm sein Zaudern nicht übel, im Gegenteil: Es ist, als wäre man Teil dieses verworrenen Traums.

Schon lange war die Enttäuschung, dass ein Buch zu Ende ist, nicht mehr so groß.

KURIER-Wertung: ***** von *****

INFO: Patrick Modiano: „Der Horizont“. Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag. 176 Seiten. 18,40 Euro.

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