Auf dem Narrenschiff der 70-jährigen Maturanten

Auf dem Narrenschiff der 70-jährigen Maturanten
Im fünften Roman von Zoran Ferić wiederholen die Jünglinge der Tito-Ära 50 Jahre danach ihre Maturareise. Die ist pubertär wie die erste + Karl Marlantes: "Matterhorn" + Roberto Costantini: „Du bist das Böse“.

Der Tod kommt meistens durch das Telefon. Aber wie und wann kommt das Alter?
Bei Zoran Ferić kommt es zwei Mal. Einmal durch den Hörer: „Ich zählte nur dreiunddreißig Jahre, und für das Alter war es noch zu früh. Aber es wollte nicht warten. Es kam, wie gewöhnlich der Tod kommt: durch das Telefon.“
Die Ankündigung ist jedoch verfrüht. Tihomir wird seine Freundin nach diesem Anruf zwar 35 Jahre nicht mehr sehen und sich deshalb manchmal verdammt alt fühlen. Aber das wirkliche Alter kommt noch unspektakulärer als durch den Hörer: Ein Kellner wird es servieren.

Vermeintlich frei

„Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr“ ist zugleich Inhaltsangabe und Titel von Zoran Ferićs fünftem Roman: Die Lebensgeschichte des 70-jährigen Tihomir Romar, eines Gynäkologen aus Zagreb, ist so ungewöhnlich wie der verschmitzt-melancholischer Titel dieser drastisch beschriebenen Bilanz einer Jugend im Jugoslawien Titos. Sexuelle Revolution und vermeintliche Freiheit da, Bespitzelung und Polizeistaat dort.
An jenem 23. Mai 2010, an dem sich die Jugend endgültig davonschleicht, hat sich Tihomir gerade in einem dieser Cafés mit Rattan-Imitaten einen wässrigen, koffeinfreien Kaffee bestellt.
Der Kellner hasst ihn,verrechnet ihm die Brühe zwei Mal, setzt auf seine Senilität. „Wer hätte gedacht, dass das Alter an einem einzigen Tag kommt, dass es einem von einem frechen Kellner serviert wird wie ein schaler Kaffee und dass das zudem noch an der Schwelle von Frühling zum Sommer geschieht.“
Kaum hat sich das Alter also ins Grundbuch eingetragen, besteigt Tihomir, der auch nach 35 Jahren Ehe mit einer anderen überall Schatten seiner Jugendliebe sieht, ein Schiff, um mit ehemaligen Schulkollegen die Maturareise ein zweites Mal zu
erledigen.

„Erledigen“ ist das treffende Wort. Die mittlerweile 70-jährigen Maturanten sind nicht in Würde gealtert. Sie sind triebhaft, eifersüchtig, gemein und unglücklich verliebt, wie sie es schon mit 18 waren. Heimlich verbandelt, oft besoffen. Nur, dass sie jetzt nicht mehr von ihren Eltern, sondern von ihren Kindern bevormundet werden.
Während der Fahrt dieses Narrenschiffes entlang der dalmatinischen Küste lecken die alt gewordenen Kinder die Wunden ihres Lebens. Manche Geheimnisse werden erst jetzt gelüftet.Vom Leben verstehen sie aber auch an dessen Ende nichts.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Karl Marlantes hat fast vier Jahrzehnte für „Matterhorn“ gebraucht. Er war 68/69 als Marine in Vietnam, kommandierte als unerfahrener, frisch aus Yale kommender Offizier einen Zug in den Dschungel, wurde verwundet und hochdekoriert.
Er hat das alles erlebt: in der Finsternis im Gebüsch hocken, gerade noch rechtzeitig den kriechenden Feind erkennen, die Beine nach hinten werfen, im eigenen Kot landen. Schießen. Überleben. Den Alltag: Der Versuch, die Stiefel auszuziehen, sie von den klammen Socken zu lösen, sie vorsichtig herunterstreifen, besonders an den Stellen, wo Wolle, Haut und Blut von Blutegelbissen und Dschungelfäulegeschwüren miteinander verklebt sind. Du willst die Hände an der Hose abwischen. Sie stinkt nach Körperflüssigkeiten, ist voll Eiter von den Geschwüren, dem Blut geplatzter Egel und den Tränen, die du wegwischst, damit niemand dein Heimweh sieht.

Agent Orange

In dem in den USA bejubelten Roman „Matterhorn“ ist es Marlantes’ Alter Ego, Second Lieutenant Waino Mellas, der mit 19 Jahren nach Vietnam kommt und an der Grenze zu Laos und Nordvietnam eine Anhöhe mit dem Codenamen „Matterhorn“ zu einer Feuerunterstützungsbasis ausbauen soll. Über den Köpfen der Soldaten wird ein Army-Flugzeug versehentlich einen unbestimmbaren Sprühregen verteilen. „Ein Entlaubungsmittel. Für Menschen unschädlich, keine Sorge“, wird man ihnen sagen. (An den Spätfolgen von Agent Orange leiden heute noch drei Millionen Menschen.) Gewaltmärsche im t agelangen Monsunregen. Rassenkonflikte in der Gruppe. Chancenlose, radikalisierte Brothers. Kämpfe gegen die Natur und den unsichtbaren Feind. Manchmal ein flüchtiger Blick in dessen Gesicht.
Marlantes spart nicht mit furchtbaren Details. Er muss, anders kann man so ein Buch nicht schreiben.
Der Erste stirbt, weil ihm ein Blutegel die Harnröhre verstopft. Die Leichenstapel wachsen. Unter ihnen Jungs, noch keine
zwanzig Jahre auf der Welt. Mit ihren vom Brausepulver „rot verschmierten Lippen und der Angst in den Augen sahen sie aus wie Kinder, die von einem Geburtstag zurückkamen, auf dem die Gastgeberin Horrorfilme gezeigt hatte“. Ein grauenhaftes Buch. Krieg.

KURIER-Wertung: ***** von *****

Das ist ein Overkill an Information: Dem Rezensionsexemplar von Roberto Costantinis Krimi „Du bist das Böse“ legt der Verlag nicht nur eine ausführliche Presseinfo samt italienischem Pressejubel bei („Das ist Italien!“), sondern liefert auch gleich den „Film zum Buch“: Auf einer DVD wird der Roman besprochen. (Für den Fall, dass der Rezensent das Buch nicht liest?) Nein, eh praktisch: Autor Costantini spricht im Interview (in dem der 59-Jährige interessanterweise geduzt wird) über seinen Krimi. Eingeleitet von dramatischer Musik und Camorra & ’Ndrangheta-Stimme: „Auch er wird sterben müssen. Und zwar bald.“ Dieses Tamtam hätte es nicht gebraucht. Denn Wirtschaftsprofessor Costantini ist mit seinem ersten Krimi trotz des reißerischen Titels ein tolles Buch gelungen.

Abgehalftert

Michele Balistreri, 55, ist fertig. Kein Frauenheld mehr wie früher. Er isst Zwieback und schaut, dass er seinen Zigarettenkonsum unter Kontrolle hält. Mittlerweile sein einziges Laster. Damals, vor 20 Jahren, als ganz Rom den WM-Sieg feierte, war er ein gedankenloser Schwerenöter und hat das Verschwinden der 20-jährigen Elisa auf die leichte Schulter genommen. Sie wurde ermordet, der Täter nie gefunden. Nun gibt es wieder Morde an jungen Frauen – die Parallelen zum Fall Elisa will niemand sehen.
Vordergründig scheint es sich um einen Täter aus dem Roma-Milieu zu handeln. „Kreuzigt den Zigeuner“, lechzt die vox populi.
Wie in jedem guten Krimi sind die Begleitumstände der Verbrechen das eigentlich Wichtige: Die sozialen Zustände in Italien, Barackenlager rund um Rom, die reichen Reaktionäre, die Lebemänner in der Politik. „Für mich erzählen die richtig guten Krimis vom wahren Leben“, sagt Costantini. Seinen abgewrackten Ermittler hält er für das Sprachrohr der Bürger. Der sagt, was sich viele nicht trauen. Der für Parkplätze und Raucherrechte eintritt. Ein Columbo als Wutbürger? Kein schlechtes Konzept in der übersättigten Krimiwelt. Die Filmrechte sind bereits verkauft, der zweite Teil ist in Arbeit.

KURIER-Wertung: ***** von *****
 

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