Arnulf Rainer feiert heute seinen 95er: Überalter Übermaler
Von jener Generation, die nach dem Krieg die Kunst revolutionierte, leben nur mehr zwei. Der eine ist Gerhard Rühm, geboren am 12. Februar 1930 in Wien. Er wurde in den 1950er-Jahren als Mitbegründer der Wiener Gruppe mit Lautgedichten und konkreter Poesie bekannt.
Der andere ist der zwei Monate ältere Arnulf Rainer: Heute, Sonntag, feiert der „Übermaler“ seinen 95. Geburtstag – mit der Familie im Innviertel. Kann sein, dass der Bürgermeister gerne mit der Blasmusik aufgetaucht wäre, aber allein die Vorstellung ist Rainer ein Graus. „Er würde davonrennen“, sagt Hannelore Ditz, seine Lebenspartnerin seit nunmehr 49 Jahren, vergnügt.
Vor fünf Jahren empfing Arnulf Rainer den Journalisten noch in seinem Bungalow auf Teneriffa, wo er die Winter überdauerte. Dann kam die Pandemie. AR stürzte einmal die Treppe hinunter und brach sich den linken Arm. Vor einem Jahr soll es ihm miserabel gegangen sein. Aber er hat sich wieder erfangen. Und so durfte ich dem alten Meister Mitte November einen Besuch in seinem Vierseithof abstatten. „Sie haben sich nicht verändert“, sagt er bei der Begrüßung, gestützt auf Stöcke, aber mit funkelnden Augen. – „Sie auch nicht!“ – „Na ja, ich bin schon einiges älter geworden. Eigentlich zu alt. Ich bin überalt.“
Vor fünf Jahren erzählte AR, am 8. Dezember 1929 in Baden geboren, von seinem Zwillingsbruder, der Jurist wurde. Vom Drill in der NS-Zeit. Von der Flucht nach Kärnten im März 1945, weil er nicht an die Front wollte (die Russen waren bereits in Eisenstadt). Vom „Liebes- und vor allem Streitverhältnis“ mit Maria Lassnig. Von den verzweifelten Anfängen als informeller Künstler in Wien. Von seinen ersten Übermalungen alter, am Naschmarkt gekaufter Ölgemälde, die viel billiger waren als Leinwände: „Das, was draufgemalt war, musste ich langsam ins Dunkle versinken lassen.“
Nikolo mit Kindermädchen
Die ersten Erfolge kamen ab 1955 mit Ausstellungen in der Galerie nächst St. Stephan, 1967 bezog Rainer ein Atelier in der Mariahilfer Straße, ein Jahr später fand im Museum des 20. Jahrhunderts (heute Mumok) seine erste Retrospektive statt. 1974 wurde ihm der Wiener Kunstpreis aberkannt, weil er die Übergabezeremonie verweigerte.
Und dann, am Nikoloabend 1975, lernte er Hannelore Ditz kennen. Sie war nach der Matura von Innsbruck nach Wien übersiedelt, um Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie zu studieren. Geld verdiente sie sich nebenbei als Kindermädchen bei der Burgschauspielerin Gertraud Jesserer, die damals, nach der Ehe mit Peter Vogel, mit André Heller liiert war.
Für die Uni sollte Hannelore Ditz eine Arbeit über Musiktherapie für psychisch kranke Menschen schreiben. Heller nahm die 23-Jährige mit zur Weihnachtsausstellung der Gugginger Künstler, um sie dem Psychiater Leo Navratil vorzustellen, der erstmals 1970 Kunstwerke seiner Patienten präsentiert hatte.
Auch AR – mit 46 Jahren doppelt so alt wie Hannelore Ditz – war bei der Vernissage: Er brannte für die Bildideen der Gugginger. Doch dann wurde sein Blick abgelenkt.
Wenig später sprach ein Mann die junge Frau an: Der Herr Professor würde ihr gerne eine Zeichnung zum Geschenk machen. Ob er sie mit ihm bekanntmachen dürfe? Zu ihrer Überraschung handelte es sich aber nicht um Navratil. Sondern um AR. Hannelore Ditz war ziemlich irritiert und wollte keine Zeichnung. Aber der Professor bestand darauf. So kamen die beiden ins Gespräch. Sie erzählte ihm, dass sie eigentlich auf der Suche nach einem Arzt sei, der ihr bei ihrer Arbeit weiterhelfen könne. Und er sagte: „Kommen Sie zu mir! Ich habe einen Stoß der Zeitschrift Musik und Medizin.“
„Ich dachte mir: Eine Zeitschrift mit so einem blöden Titel gibt es überhaupt nicht!“, erzählt Hannelore Ditz. Die Studentin war leicht verzweifelt: „Oh Gott, wie komm ich da nur wieder raus?“ In den folgenden Tagen meldete sich AR immer wieder telefonisch. Sie ließ sich verleugnen: „Wenn der anruft: Ich bin nicht da!“ Rainer wollte wissen, wann sie die Zeitschriften abholen komme. Also besuchte sie ihn dann doch im Atelier. Und er hatte tatsächlich einen Stoß Musik und Medizin.
Rainer hört zu – staunend wie ein Kind. „War das wirklich so?“ Er schüttelt den Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern. Aber es wird schon stimmen. Ich habe es nie bereut.“
Der Künstler feierte immer größere Erfolge: „Ich hatte damals vor allem Ausstellungen in Deutschland.“ Die Bildertransporte wären zu kompliziert gewesen – auch wegen des Zolls. „So ungefähr.“ Daher entschloss sich AR zu einem Wohnsitz in Bayern. In einem Schloss am Inn, das ursprünglich ein Kloster gewesen war, lebte das Paar in zwei Zimmern. „Und im Theatersaal hab’ ich gemalt“, sagt er.
„Hätten Sie sich vorstellen können, ganz nach Bayern zu übersiedeln?“ – „Das war schon eine Idee.“ Aber dann, 1979, kam Clara: „Das war das Größte, was in meinem Leben passiert ist.“
Bei Hannelore Ditz setzten die Wehen drei Wochen zu früh ein. Passau wäre weiter entfernt gewesen, so wurde die Tochter in Schärding geboren. „Die Apothekerin hat mich mitten in der Nacht hingefahren.“ Denn AR war in Wien. Vor lauter Stress fiel er im Atelier die Treppe hinunter und brach sich die Rippen. Er musste auch ins Krankenhaus: „Wir haben nur telefoniert.“
Im Schloss war zu wenig Platz. AR, Professor an der Akademie der bildenden Künste, wollte auch ein Atelier in Österreich – an der Bahnstrecke nach Wien. Es folgte eine lange Suche. Am 1. Jänner 1980 bekamen sie die Schlüssel: „Dann begann der Umbau“, erzählt Hannelore Ditz. „Es gab nicht einmal Strom.“
Mittelpunkt der Welt
Enzenkirchen wurde zum Mittelpunkt der Welt. AR baute einen Stall zum Atelier um, er malte im Schuppen, okkupierte schließlich alle Nebengebäude. Später wurde noch ein Atelier errichtet: wieder mit vielen Fenstern im Dachgeschoß.
Hannelore Ditz führt mich durch das Gebäude mit der prächtigen Bibliothek und dem Archiv. Sukzessive werden hier alle Werke digitalisiert und katalogisiert, immer wieder kommen Konvolute hinzu – aus dem Atelier in Wien, aus dem Schloss in Bayern. Grafikschrank reiht sich an Grafikschrank. Auch wenn sie ein halbes Jahrhundert an Rainers Seite ist: Sie vermag nicht abzuschätzen, wie viele Werke es insgesamt gibt. „Normalerweise werden bei Radierungen die Fehl- und Probedrucke vernichtet“, sagt sie. „Aber Arnulf war dagegen: ,Das ist ja ein wunderbarer Malgrund!‘ Er hat nichts weggeworfen, alles aufgehoben. Und er hat aus allem etwas gemacht.“
Er übermalte die Radierungen, er nutzte die Rückseiten, er überarbeitete die Druckplatten. Daher gibt es viele Werke, die nie oder noch nicht gedruckt wurden. Von Zeit zu Zeit bringt man neue Editionen heraus – und AR signiert sie.
Im Dachgeschoß malt er. Oder richtig: Dort malte er. Denn in der Corona-Zeit verließ ihn die Kraft. Aber alles ist vorbereitet für die Rückkehr des Meisters. Reihum, dicht an dicht, sind weiße Blätter an Tafeln gepinnt. Und viele Werke befinden sich im Geburtsstadium: „Ich habe alles so gelassen, weil Arnulf mitunter gesagt hat, er würde gern wieder arbeiten“, sagt Hannelore Ditz.
Zwischen den Bildern
In der Regel war es jedenfalls so: Rainer schob einen kleinen Wagen mit sich, auf dem die Plastikflaschen mit den Farben und die Pinsel standen. Er ging von einem Blatt zum nächsten, da oder dort übermalte oder ergänzte er. „Wenn er gerade Blau verwendet hat, hat er geschaut, in welchen Bildern er diesen Farbton verwenden kann“, erklärt Hannelore Ditz. „Und das musste dann trocknen, bevor er eine andere Farbe verwenden konnte.“ AR drückte es 2019 so aus: „Mit einem Farbkübel streife ich zwischen den Bildern hin und her. Und immer wieder spricht ein Bild zu mir: ,Ich bin nicht fertig, ich brauche hier oder dort diese und jene Farbe.‘“
Das war ein wochen-, monate-, jahrelanger Prozess. „Dann ist ihm wieder eine Inspiration gekommen“, sagt Hannelore Ditz. „Und irgendwann sagte er: ,Das Bild ist jetzt fertig, man kann es weggeben.‘“
Im Atelier stößt man auf gepinselte Botschaften: „Große Formate unfertig! Nicht wechseln“ oder „In diesem Raum nichts abpinnen!“ Über die Platten lief im Laufe der Jahre derart viel Farbe, dass auch sie schon – scheinbar – zu Kunstwerken geworden sind. Und die Köpfe der Stecknadeln sind durch das wiederholte Überstreichen mit Farbe schon zu Tropfen angewachsen.
Noch weit eindrücklicher ist das andere, das ältere Atelier. Hier, in diesem kunterbunten Chaos, offenbart sich Rainers Kosmos. Um im Erdgeschoß Licht bis in den letzten Winkel zu haben, hat AR an die Decke Alu-Platten und Silberfolien geklebt, die er mit Leuchten anstrahlt. Überall gibt es Hinweisschilder „Rauchen verboten“ und „Hantieren mit offenem Feuer verboten“, ein „Rauchverbot“-Plakat des Spielwarengeschäfts Ed. Witte hat er mit roter Farbe umrahmt, auch Feuerlöscher stehen herum. „Arnulf hatte panische Angst, dass ein Brand ausbrechen könnte“, erklärt Hannelore Ditz. „Und um den Christbaum standen drei Eimer Wasser.“ AR staunt: Davon weiß er nichts mehr.
Der Dachstuhl ist der mit Farbspritzern übersäte Malboden für die großen Gemälde, auch viele Kreuze sind hier entstanden. Das Wagerl mit den Farbkanistern steht herum, in einem Plastikmülleimer stecken, wie ein Blumenstrauß, die langen Pinsel und ein Rechen (zum Kratzen in der Farbschicht).
Das Atelier im Erdgeschoß mit den Arbeits- und Zeichentischen wird von einem Fries mit übermalten Masken dominiert, darunter stehen Aluminiumkoffer und Schubladenschränke sonder Zahl, fein säuberlich beschriftet: Schatten, Anatomie, Paare, Wäsche, Puppen, Spielzeug, Masken, Schiffe, Meer, Goya, Zirkus, Antike, grotesk, abstrakt, Spirit, Salz, Porträt, Feuer, Traum, Land, Wein, Tier, Venedig, Gesicht, Botanik und so weiter. Alle sind voll mit Skizzen, Ideen, fertigen Arbeiten. Und was steckt in der Lade mit dem Schild „Blinde Frauen“? Hannelore Ditz zuckt mit den Schultern.
Wir gehen weiter. „Ich könnte für eine Ausstellung zu jedem Thema Bilder von Arnulf beisteuern“, sagt sie. „Es gibt nichts, was er nicht gemacht hat.“ Und so gibt es auch einen Schrank mit dem Wort „Akt“ auf allen Laden. „Er hat nie selbst fotografiert, sondern die Bilder in Auftrag gegeben. Einmal war er mit den Fotos gar nicht zufrieden. Aber er hat sie trotzdem verwendet. Und so gibt es Kreuze mit sexuellen Darstellungen als Grundlage.“ Das amüsiert Hannelore Ditz.
Und: „Er hat immer mit kleinen Formaten begonnen. Wenn er diese beherrscht hat, ist er zu größeren Formaten übergegangen. Das sieht man am besten bei den ,Face Farces‘: Er hat die Automaten-Fotos übermalt, sie dann vergrößert und wieder überarbeitet.“
„Schneiden Sie noch Grimassen?“, frage ich AR. „Nein. Würd’ ich aber. Gegen Bezahlung.“ Er lächelt. „Wie viel würde das kosten?“ – „Wie viel haben Sie denn dabei?“ Arnulf Rainer ist gut gelaunt.
„Ist dieser Ort hier eine Art Paradies für Sie?“ – „Nein.“ – „Aber Sie genießen schon die Aussicht?“ – „Nur, wenn ich rausschau!“ – „Und schauen Sie raus?“ – „Nicht immer.“
Früher, erzählt Hannelore Ditz, habe er gar nicht mitgekriegt, am Land zu leben. Denn er sei derart in seine Arbeit vertieft gewesen. AR nickt. Vor Jahrzehnten experimentierte er in München unter Aufsicht mit LSD und Meskalin. „Du hast gedacht, die Meisterwerke des Jahrhunderts zu malen“, erinnert Hannelore Ditz ihren Mann. „Aber danach warst du enttäuscht, weil sie so schlecht waren. Von da an wolltest du dich in diesen Zustand versetzen, in diesen Rausch kommen – ohne Drogen.“ Er arbeitete wie in Trance. „Er war nicht ansprechbar. Daneben hätte eine Bombe explodieren oder ein Feuer ausbrechen können.“ – „Ja, das wird so gewesen sein“, sagt AR. „Das war tatsächlich so! Einmal hätte ich dringend eine Unterschrift fürs Finanzamt gebraucht“, sagt Hannelore Ditz. „Aber du hast mich hochkant rausgeschmissen.“ AR lächelt amüsiert.
Sein Leben ist beschaulich geworden. „Sehnen Sie sich noch nach Wien?“ – „Nein.“ – „Befällt Sie hier hin und wieder die Einsamkeit? – „Die ergibt sich.“ AR schaut hinunter zu Kenji, dem Hündchen, und streichelt es. Er liest gerne, derzeit „Figuren in der Landschaft: Begegnungen auf Reisen“ von Paul Theroux. Er genießt es, am Hof mit der Familie zusammenzuleben. „Aber nicht immer.“ Die Enkeltochter trägt zur Unterhaltung bei. „So muss man das sagen.“ Sie bringt ihm die Brille, sie macht Scherze mit ihm, am Abend schickt sie ihn mit einer Armbewegung ins Bett. Weil ja auch sie schlafen gehen muss.
„Haben Sie schon mit Ihrer Enkeltochter gemalt?“ – „Nein.“ – „Es gibt ja auch Gemeinschaftsarbeiten mit Ihrer Tochter.“ – „Na gut, ich kann’s versuchen.“
Die blinden Frauen
„Wer ist denn Ihr Lieblingsgalerist? Thaddeus Ropac, der im Jänner eine Ausstellung macht? Oder Gabriele Wimmer und John Sailer?“ – „Eine schwierige Frage. Immer der, der am besten verkauft.“
Die Quiche ist gegessen, der Kaffee getrunken. AR kippt alle Tabletten auf einmal in den Mund und schluckt sie runter. „Machen Sie das immer so?“ – „Ja.“
Ich fuhr zurück nach Wien. Und zwei, drei Tage später kam ein Mail von Hannelore Ditz. „Ihre Neugierde ob des Koffers mit blinden Frauen hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe ihn geöffnet. Der Inhalt sind übermalte Frauen mit geschlossenen Augen in Ekstase, bei der Geburt, schlafend oder verstorben usw. Also sind sie irgendwie blind.“
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