Anschauungsmaterial eines Sehkörpers: Posthume Werkschau zu Günter Brus
Der heilige Sebastian wird in der Kunst meist als fescher junger Mann dargestellt, in dessen Körper zahlreiche Pfeile stecken. Der heilige Petrus von Verona, auch „Petrus Martyr“ genannt, wird meist mit einer klaffenden Wunde im Kopf abgebildet, in der manchmal noch ein Hackmesser steckt. Eine „Zerreißprobe“ sieht man in Bildern des heiligen Vinzenz von Valencia – er musste eine solche Anfang des 4. Jahrhunderts auf einer Streckbank erdulden.
Auch wenn sich Günter Brus keinesfalls als Wiedergänger dieser Figuren sah, ist es doch schwer, die Tradition der christlichen Leiddarstellungen auszublenden, wenn man heute, kurz nach dem Tod des österreichischen Künstlers mit 85 Jahren, seine große Werkschau im Kunsthaus Bregenz besucht. Zumal sich diese Ausstellung, an der Brus bis zu seinem Tod mitarbeitete, über vier Stockwerke durch lichte Räume emporschraubt und stellenweise wie ein Aufstieg vom Irdischen zu einer Vergeistigung anmutet.
Den Tod überwinden
Die Idee, den physischen Körper zu attackieren und ihn letztlich hinter sich zu lassen, begegnet im Werk von Brus – und insbesondere in dieser Ausstellung – des Öfteren. Die „heftigen“ Beispiele dafür – jene, die den Ruf des Steirers als Extremkünstler begründeten – sieht man im zweiten Stock: Die „Selbstverstümmelung“, von Kurt Kren 1965 filmisch festgehalten; die „Selbstverstrickung“, bei der Brus wie die „leibhaftige Malerei“ auftrat und sich wie in einem Geburtsprozess als schwarz getünchte Figur durch eine Leinwand zwängte. Oder die „Selbstbemalung“ (1964), wo Brus neben einem Strich über dem Kopf, der eine Wunde oder ein Spalt sein kann, auch stets die Attribute oder Leidenswerkzeuge ins Bild rückte: eine Axt, einen Korkenzieher, Rasierklingen, eine Säge.
Im Kontext
Der Bregenzer Schau, die trotz großer Materialfülle enorm präzise und nie überladen gestaltet ist, gelingt es hervorragend, diese Werke in ein „Davor“ und ein „Danach“ einzubinden. Ein „Aktionist“ war Brus ja nur relativ kurze Zeit, von etwa 1964 bis 1970, sein ganzes Schaffen umfasste sechseinhalb Dekaden. Vieles davon lässt sich als Überwindung der Malerei erzählen: Die frühen Arbeiten, in Bregenz im Erdgeschoß platziert, zeigen ein ruheloses Austesten eines Studenten, der sich den bewegten Strich Van Goghs scheinbar im Vorbeigehen angeeignet hatte.
Das „Informel“-Kapitel im ersten Obergeschoß führt Brus dann als impulsiven Maler in der Nachfolge von Jackson Pollock vor. Doch während der mit der Leinwand zu tanzen schien, kämpfte Brus mit dem Papier: Risse, Stiche zeugen an den Originalen davon.
Es folgte der aktionistische Befreiungsschlag. Dass dieser Brus imagemäßig festnagelte, dürfte ihn mehr geschmerzt haben also so manches reale Aktionswerkzeug: „Die lyrische Seite wurde geflissentlich übersehen“, schrieb er 2010.
Heiliger und Künstler
Im Obergeschoß angekommen, kann der Bilddichter und Intellektuelle, der Brus ebenso war, schließlich strahlen. „Man macht auf der Erde einen Besuch, um an einem Anschauungsunterricht teilzunehmen“, heißt es da im Zyklus „Der Sehkörper“ von 1993, in dem einmal mehr (auch) das Verhältnis zwischen der physischen und der geistigen Welt zur Debatte steht.
Sein Sinnieren wusste Brus an einer unglaublichen Breite von Referenzen anzubinden; das Kunsthaus zeigt etwa einen Zyklus zu William Blake. Dieser „unterlag hysterischen Visionen gleich jenen Phantasten, die bei lebendigem Leib in den Himmel führen“, heißt es auf einem Blatt. „Blake blieb ob seines materialistischen Widersinns auf der Erde – ein Heiliger unterliegt seinen Visionen, ein Künstler züchtet sie.“
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