Noch schlimmer kam es 1968: Am 7. Juni artikulierte er bei der Simultanveranstaltung „Kunst und Revolution“ im Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien – besser bekannt als „Uni-Ferkelei“ – mit Kollegen wie Otto Muehl, Peter Weibel und Oswald Wiener seine Abscheu vor den politischen Machtgeflechten: urinierend, onanierend und kotzend.
Das brachte ihm sechs Monate verschärften Arrest wegen Herabwürdigung der österreichischen Staatssymbole ein. Um der Strafe zu entgehen, setzte er sich mit seiner Familie – Ehefrau Anna und Tochter Diana – Anfang 1969 nach Westberlin ab.
Wenn Brus, ein sanfter Mensch, der auch recht hitzköpfig sein konnte, bei einer Flasche Wein in Fahrt kam, dann erzählte er von damals: Dass sie immer in Furcht gelebt hätten. Und dass einmal die Polizei wild an die Tür getrommelt hätte. Dass er in Panik über den Küchenbalkon geflohen sei, sich dabei fast alle Knochen gebrochen hätte. Dass ihm erst auf der Straße aufgefallen sei, sein Geldbörsel vergessen zu haben. Und dass er zur Anni hinauf schrie, sie möge es ihm herunterwerfen. Ein Wahnsinn natürlich, die ganze Aktion.
Zumal der Polizeieinsatz nicht einmal ihm galt: Just in jenem Haus waren auch Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande untergeschlüpft. Die Familie hatte keinen Schimmer, dass die Nachbarin, mit der man mitunter am Gang plauderte, die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof war.
1976 konnte Anna Brus beim damaligen Bundespräsidenten Rudolf Kirchschläger erwirken, dass die Haftstrafe ihres Mannes in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Und 1979 kehrte Brus samt Familie nach Österreich, eben nach Graz, zurück. Das Forum Stadtpark und die von Alfred Kolleritsch herausgegebene Literaturzeitschrift manuskripte, für die er etliche Titelblätter gestaltete, wurden eine neue Heimat.
Die Zerreißprobe
Den Aktionismus, 1964 von ihm mitbegründet, hatte der Steirer, am 27. September 1938 in Ardning geboren, längst aufgegeben: Seine 43. und letzte Aktion fand unter dem Titel „Zerreißprobe“ im Sommer 1970 in München statt. Der Performer war an physische Grenzen gegangen (darunter 1968 mit „Strangulation“), aber vor dem radikalsten Schritt – Rudolf Schwarzkogler hatte sich am 20. Juni 1969 aus dem Fenster gestürzt – schreckte er zurück. Auch wegen seiner Familie.
Brus verlegte sich geradezu obsessiv aufs Zeichnen, er schrieb düstere Romane, in denen er menschliche Abgründe auslotete (zum Beispiel „Der Geheimnisträger“ von 1984) und kreierte eine Mischform, die er „Bilddichtung“ nannte, darunter „Die Gärten in der Exosphäre“. Zudem schuf er fantasievolle Bühnenausstattungen, etwa für die Uraufführung „Erinnerungen an die Menschheit“ (1985) von Gerhard Roth, mit dem er befreundet war, am Grazer Schauspielhaus.
Mit der Zeit, arriviert, versöhnte sich der ehemalige „Staatsfeind“ mit der Heimat: 1996 erhielt Brus den Großen Österreichischen Staatspreis. Er war daher ein Mitglied des ehrwürdigen Kunstsenats.
Die Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum sicherte sich unter der Leitung von Peter Weibel und Christa Steinle viele Werke. Und die Sammlung wurde stetig erweitert: 2008 kaufte das Land Steiermark um 1,4 Millionen Euro einen großen Komplex von Brus an, 2009 den literarischen Vorlass mit über 700 Heften und 20.000 beschriebenen Seiten. In der Folge entstand das 2011 eröffnete Bruseum als Teil der Neuen Galerie, das sich seither mit dem Schaffen von Brus und ihm nahestehenden Künstlern beschäftigt.
Im Frühjahr 2023 rückte das Bruseum erstmals Anna Brus in den Fokus – nicht nur als Ehefrau (seit 1961), Muse und Modell, sondern auch als Künstlerin mit dem Namen Ana. Welche Bedeutung seine Frau für ihn hat, war Günter Brus durchaus bewusst: „Sie hat aus mir einen berühmten Künstler gemacht, vorsichtshalber gesagt: ein Genie des repräsentativen Untergrundes.“
Brus nahm mehrfach an der Documenta in Kassel teil, er hatte große Ausstellungen unter anderem in der Albertina und in der Österreichischen Galerie Belvedere. Seine Krebserkrankung hielt er mit Arbeitseifer in Schach.
Der Irrwisch
Die engen Weggefährten sind mit der Zeit gestorben, zuletzt Oswald Wiener (am 18. November 2021), Gerhard Roth (am 8. Februar 2022), Hermann Nitsch (am 18. April 2022) und Peter Weibel (am 1. März 2023). Unter den Aktionisten war er „the last man standing“. Nun ist auch er gestorben – 85-jährig in einem Grazer Krankenhaus. Das offizielle Österreich reagierte betroffen. Für Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) hat „Günter Brus die Weltkunst mit geprägt und unser Land zu einer Zeit mitverändert, als Veränderung dringend notwendig war“.
In einem Monat, am 15. März, wird in Wien das private Wiener Aktionismus Museum (WAM) eröffnet – und am 8. Mai im Bruseum die Ausstellung „Ein irrer Wisch“. Günter Brus lebt weiter.
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