Was ist hinter dem Horizont?
Man sollte es ja nicht für möglich halten angesichts der Flut von Büchern, die nichts heißen außer „Tödliche Begierde“ oder „Kirschroter Sommer“, aber: Es gibt (es gab) Schriftsteller, sogenannte Dichter, die haben versucht, über den Horizont zu schauen.
Die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson zum Beispiel spürte in ihrem Gehirn ein Begräbnis – im Gedicht, von Uda Strätling übersetzt, klingt das so:
Als wär der Himmel eine Glocke, / Und Dasein nur ein Ohr, / Ich und die Stille ein fremder Stamm / Als Strandgut, einsam, hier – Dann brach ein Balken im Verstand, / Ich fiel und fiel so tief –/ Und stieß auf Welt um Welt bei jedem Sturz, / Und dann hört Wissen auf –
Eigentlich die beste Strandlektüre: Solche Gedichte passen zum Meer, auf das die Menschen nicht müde werden zu schauen. Warum schauen sie? Weil es selbst in Jesolo darum geht, in die Ewigkeit sehen zu können. Das Meer ist Symbol, für Dichter und Urlauber.
Dickinsons Gedichte enden meist mit einem Bindestrich. Damit zeigte sie ihre Ungewissheit, ihr Schweigen, weil vieles Rätsel bleiben muss. Von dieser Reise der Dichter an den Rand des Denkbaren – und zwar im vollen Wissen, dass es keine Antworten gibt –, handelt das Buch „Die Grenzen der Sprache“.
Anna Mitgutsch hat es geschrieben. Die Linzerin ist Schriftstellerin („Wenn du wiederkommst“) und Literaturwissenschaftlerin. In diesem Essay ist sie beides. Sie baut eine Brücke für Leser, die gemerkt haben, dass Unterhaltungsromane nicht alles sind; und wenn die sich dann trauen, zu Dickinson, Rilke, Robert Frost und Paul Celan hinüber zu wechseln, sitzt Anna Mitgutsch den Gedichten gegenüber.
Ist ihre Partnerin. Vergisst aber nicht, uns Interessierte ins Gespräch hinein zu holen.
KURIER: Es ist ja schon schwierig genug, über Sex zu schreiben. Warum will man das Unsagbare sagbar machen, das Unsichtbare sichtbar?
Anna Mitgutsch: Weil es ein Bedürfnis ist. Und ohne das Bedürfnis, sich dem Unsagbaren mit den unbrauchbaren Mitteln, die uns als Menschen zur Verfügung stehen, zumindest anzunähern, gäbe es keine Kunst, die Jahrhunderte, Jahrtausende überdauert, keine Religion, keine Philosophie, und die Welt wäre ein noch düsterer Ort ... Wer unterhalten werden will, der soll Krimis lesen. Davon gibt es zur Zeit mehr als genug.
Von Wittgenstein, der Schweigen empfahl, weil sich nicht benennen lasse, was außerhalb der Welt liege, halten Sie nichts?
Wittgenstein sagt nur, die Logik könne über das, was außerhalb der Sprache und des Denkbaren liegt, keine Aussage machen. Es spricht nicht über die Kunst.
Und wenn uns dann der Satz eines Dichters berührt?
Wenn es einem Kunstwerk – egal, ob Musik, Bild, Foto, Literatur – gelingt, uns zu berühren, dann WISSEN wir für einen Augenblick ... das ist das, was wir mit unserem dürftigen Wortschatz als das Göttliche spüren.
Wann ist es Ihnen so ergangen?
Das geht mir so bei Kafka, fast immer bei Amos Oz, auch wenn ich manche – nicht alle, eher die späten – Romane von Philip Roth lese. Aber auch bei einem einfachen Gedicht von Eichendorff kann es passieren, im richtigen Augenblick, wenn man endlich innerlich verstummt und sich zurücknimmt.
Wird man als Schriftsteller nicht neidig auf die Maler? Die haben ja mit der Farbe Schwarz ein starkes Hilfsmittel, um sich dem Abgrund zu nähern.
Anna Mitgutsch schreibt: Der Horizont habe in Kunst und Literatur als Chiffre ausgedient. Denn wenn Filmcowboys der Sonne entgegen reiten und Liebespaare zwischen Wasser und Himmel Händchen halten, taugt der Horizont nicht mehr.
Es ist der Abgrund, der ihn abgelöst hat. Nach
Auschwitz kann es nicht mehr nur darum gehen, Worte fürs Göttliche zu suchen. Vielmehr geht es jetzt ums Nichts; und das sind wir.
KURIER-Wertung: **** von *****
Info: Anna Mitgutsch: „Die Grenzen der Sprache“ Residenz Verlag. 112 Seiten. 16,90 Euro.
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