Man erbt mehr als nur den Besitz

Der Grazerin Angelika Reitzer, 42, wurde nun der Literaturpreis des Landes Steiermark verliehen
"Wir Erben" erzählt von zwei Frauen, die mit familiären Altlasten zu kämpfen haben.

Familienleben und weibliche Identitätssuche, auf den ersten Blick unspektakulär, auf den zweiten umso eindringlicher: Das sind die Themen der in Wien lebenden Grazerin Angelika Reitzer, 42, die 2008 mit "Frauen in Vasen" und zwei Jahre später mit "unter uns" auf sich aufmerksam machte. Für ihren neuen Roman "Wir Erben" wurde ihr vergangene Woche der Literaturpreis des Landes Steiermark verliehen.

Sie schildert darin zwei Frauenleben, die zunächst wenig miteinander zu tun haben scheinen. Da ist Marianne, zu Beginn der Erzählung Anfang vierzig. Sie lebt in einem Ort südlich von Wien, wo es gerade einmal einen Greißler und ein Wirtshaus gibt.

Marianne erbt von ihrer Großmutter, mit der sie zusammenlebte, ein Haus. Deren Gartenbaubetrieb hat sie schon früher übernommen. Als Teenager ist sie von der Schule geflogen, hat Unfug getrieben, ist zu früh schwanger geworden, die Großmutter hat sie unter die Fittiche genommen. Heute ist Marianne das Zentrum einer Großfamilie. Immer wieder sind Cousins, Cousinen, Onkel, Tanten, Freunde zu Besuch.

Geheimnisse

Nach dem Tod der Großmutter, die eine tüchtige Geschäftsfrau mit allerhand – angedeuteten – Geheimnissen gewesen sein muss, bleibt Marianne allein. Sie vermisst ihren Sohn Lukas, der in Wien studiert und später nach Berlin zieht. Marianne wird sich in der neuen Einsamkeit zurechtfinden müssen.

Leise und präzise erzählt Reitzer von Familie, von Liebe und von Tod. Da werden Begräbnisse beobachtet, Affären skizziert, Verläufe von Krebskrankheiten geschildert. Und immer wieder wird aus dem Alltag des Gartenbaubetriebs berichtet. Die Bestimmung von Zuchtzielen, die Blüten und die Pollen, das Stutzen der Triebe. Man kann das durchaus als Metapher auf den Wandel des Lebens lesen.

Man erbt mehr als nur den Besitz

200 Seiten lang erzählt Reitzer von Marianne, und man möchte sie nicht verlassen. Es wirkt fast verstörend, als die Erzählerin den Leser mit einer zweiten Protagonistin und einer neuen Erzählwelt konfrontiert. Doch auch in Siris Leben taucht man rasch ein – wenn auch nicht so komplett wie in Mariannes Gartenbau-Universum.

Siri ist zu Beginn ein sechzehnjähriges Mädchen, das mit seinen Eltern aus der DDR geflohen ist. Wenig später bricht das sozialistische Reich zusammen und Siri sucht ihren Platz im Leben. Über Umwege kommt sie in die Nähe Mariannes.

Das alles ist sehr viel und zugleich, monierte ein Kritiker, auch nichts Besonderes. Kann schon sein. Es gibt keinen Mord und keinen Krieg. Vermutlich ist aber genau das Reitzers Anliegen: Vom ganz normalen Leben zu erzählen. Und gerade darin liegen die großen Dramen, die Reitzer so unaufgeregt und doch so berührend schildert.

Verlust

Etwa, als Marianne Gusti, die achtjährige Tochter ihrer krebskranken Freundin, für einen Abend zu sich nach Hause nimmt. Gusti ist ein tapferes, unweinerliches Kind. Sie verlangt nichts als einen Gute-Nacht-Kuss. Mitten in der Nacht schlüpft sie dann still zu Marianne ins Bett. Man muss nicht erklärt bekommen, dass dieses Kind Angst vor dem Verlust der Mutter hat. Man spürt es.

Ein weiterer, bemerkenswerter Moment entsteht, als Siri mit ihren Eltern zurück in die alte Heimat kommt. Die DDR, die sie vor einem halben Jahr verlassen haben, gibt es nicht mehr. Ihr Haus steht nun leer und sie müssen feststellen, dass es geplündert wurde – von ihren vermeintlich besten Freunden. Die noch dazu, wie viele ehemalige Freunde und Nachbarn, nichts als Verachtung für die Geflohenen übrig haben.

Müsste man einen Einwand zu diesem Buch finden, so wäre es dieser: Das Zusammentreffen der Frauen, warum sie beide in diese Erzählung gepackt wurden, erschließt sich nicht zwingend. Bestechend aber ist Reitzers Stil: Sie hat eine geradezu Doderer-hafte Art, mit Namen um sich zu schmeißen. In beiden Lebensgeschichten überfordern die vielen Verwandten und Freunde zunächst. Doch genau da liegt der Reiz: Die Autorin springt in den Zeiten und den Erzählperspektiven, mäandert zwischen Überfrachtung und Andeutung. Was zunächst unklar ist, erschließt sich später deutlich.

KURIER-Wertung:

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