Die nordamerikanische Kleinstadt: Selbst wer noch nie in einer solchen war, trägt Bilder von ihr im Kopf herum, eingeimpft von zahllosen Filmen und TV-Serien. Sehr oft geht es dort darum, dass das Lebensmodell mit eigenem Haus, Veranda, Garten und Garage Risse bekommt: Verdrängte Leidenschaften oder Obsessionen sprengen den Rahmen (Sam Mendes‘ „American Beauty“, Todd Haynes‘ „Carol“), manchmal stören unerwartete Besucher die Ordnung (Steven Spielbergs „E.T“, Stephen Kings „Es“), oder alles kippt ins Unerklärliche (etwa in Filmen von David Lynch).
Es ist dieses Biotop, aus dem der US-amerikanische Fotograf Gregory Crewdson seine gestochen scharfen, großformatig ausgearbeiteten Fotografien kreiert. Wie ein Filmregisseur schafft er dazu elaborierte Inszenierungen, meist sind Kräne, Scheinwerfer und bis zu 100 Mitarbeitende im Einsatz, ganze Straßenzüge werden abgesperrt, Studio-Sets gebaut.
Das Ergebnis nennt Crewdson „Single-Frame Movies“, also Kinofilme, die aus nur einem Bild bestehen. Eine bislang nie gezeigte Bandbreite davon zeigt die Albertina nun in einer kolossalen Werkschau, die Crewdsons gesamtes Schaffen seit den 1980er Jahren abbildet: Denn der Fotograf hat dem Museum ein Konvolut von 182 Werken als Schenkung überlassen. Davor hatte Joel Sternfeld, einst Crewdsons Lehrer und in mancher Hinsicht sein Vorläufer, Ähnliches getan.
Es ist definitiv eine der Ausstellungen des Jahres, nicht nur ihrer spektakulären Bilder und ihres Umfangs wegen: In der Post-Lockdown-Ära, im Vorfeld der Wahlen in den USA und vor dem Hintergrund KI-generierter Bilder und großer Umbrüche im Film- und Streamingsektor kommt sie auch zur richtigen Zeit. Denn Crewdsons Inszenierungen sind nicht nur Resonanzräume für seelische und soziale Zustände (Psychoanalytiker und Kulturtheoretiker lieben ihn): Sie dienen auch als Echokammern für populäre Bildvorräte, saugen sie an und geben sie durch ein Prisma gebrochen wieder zurück.
Heutige Serienjunkies werden unweigerlich an den Netflix-Hit „Stranger Things“ denken müssen, wenn sie die Badezimmer-Szene aus Crewdsons Serie „Twilight“ (1998-2002) sehen: Ein junger Mann greift hier durch den Abfluss einer Dusche in eine ungewisses Darunter, in das der Protagonist freilich nicht blicken kann – das Publikum sieht es sehr wohl und weiß, dass in diesem Dahinter meist Monster lauern.
Überhaupt spielt Crewdson virtuos damit, Betrachterinnen und Betrachter in seine Welten einzubinden: In der 1996/’97 entstandenen Serie „Hover“ („Schweben“) weist er ihnen einen erhöhten Standpunkt zu; in dem kurz vor der Pandemie entstandenen Reihe „An Eclipse of Moths“ und dem jüngsten Werkblock „Eveningside“ – ein Schwarzweiß-Porträt einer eher imaginierten als realen Kleinstadt – gastiert das Publikum ungefragt in einer Szenerie, in der vereinzelte Personen mit sich allein gelassen scheinen.
Unheimliche Begegnungen
In den Serien „Beneath The Roses“ (2003-2008), „Cathedral of the Pines” (2013/14) wiederum wird man – oft durch Fenster-Durchblicke oder unlogische Spiegelungen im Bild – Zeuge von etwas, das sich eben erst zugetragen hat oder sich zutragen könnte. Der Umstand, dass dies eben kein Film ist, das Bild sich nicht bewegt, steigert die Beklemmung nur noch.
Nicht nur auf der Ebene der Symbole und Anspielungen ist jedes einzelne Foto ein gigantisches Sandwich, über dessen Zutaten viel gesagt werden kann (neben der oft genannten Inspirationsquelle Edward Hopper beschäftigt sich ein Katalog-Essay auch mit Parallelen zu niederländischen Altmeister-Interieurs). Die Bilder selbst sind auch in technischer Hinsicht geschichtet, als Crewdson stets mehrere Bilder aus derselben Perspektive schießt und diese dann überlagert, um in jedem Bereich die intensive – und oft irreale – Tiefenschärfe zu bekommen. Ein ähnlicher Prozess ist in manchen Handykameras mittlerweile automatisiert eingebaut, ohne dass jemand deren Bilder deshalb „künstlich“ finden würde.
Künstlerische Intelligenz
Die Konstruiertheit von Crewdsons Bildern – manches ist tatsächlich Montage, vieles sieht nur danach aus – macht dagegen Künstlichkeit bewusst. Und sie bringt stellenweise auch KI-Bildgeneratoren in den Sinn, die ihr Material ebenso aus dem popkulturellen Bildervorrat schöpfen. Freilich ist die Sorgfalt und das Wissen, das Crewdsons Werke zum Abbild von Seelenzuständen macht, bei aller technischen Brillanz kein Werk der Technik. Wer noch Schwierigkeiten hat, künstliche Intelligenz von künstlerischer Intelligenz zu unterscheiden, kann es in dieser Ausstellung lernen.
Kommentare