Albertina: Der Kosmos des Keith Haring
Zeichnen – Keith Haring wusste es – ist wirklich nichts Neues. Seit der Steinzeit kennen wir das. Von den Höhlenmenschen über Albrecht Dürer bis Pablo Picasso machten wir uns Bilder von unserer Welt. Aber so noch nicht: Keith Haring, der schmale Schüchti mit den großen Brillen, rückte das Geringste und doch Bedeutendste der Zeichnung in den Mittelpunkt seiner Arbeit – die Linie.
Linear war auch sein Aufstieg in den Olymp der Kunst. Ende der 1970er-Jahre machte sich der Bursche aus Pennsylvania einen Namen, als er freie Werbeflächen in der New Yorker U-Bahn mit seinen Männchen bemalte. Binnen zweier Jahre hatte Haring sich seinen Platz in den bekanntesten Galerien und Museen der Welt erzeichnet.
Mehr noch. Am Höhepunkt seiner Karriere konnte man den Strichmännchen kaum entkommen. Auf T-Shirts, auf Kaffeehäferln oder Turnschuhen und Uhren: Keith Haring Superstar war super präsent. Und ist es fast drei Jahrzehnte nach seinem Tod nach wie vor.
Längst wird der 1990 viel zu früh an den Folgen von Aids verstorbene Künstler in einem Atemzug mit Andy Warhol, dem bedeutendsten Pionier der Pop Art, genannt. Mit diesem teilte Haring auch die Ansicht, dass sich Kunst überall abspielen könne. In seinem Fall eher in der „Tube“, dem U-Bahn-Schacht, als auf der (Suppen-)Dose. Bei Plakaten und dem Fernsehen – MTV wurde 1981 gegründet – waren sich beide einig: Jede Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken, kann man, ja, muss man nutzen.
„In den letzten hundert Jahren haben wir die Entwicklung der Telekommunikation, des Radios, des Automobils, der Luft- und Raumfahrt erlebt“, notierte Keith Haring 1983 in sein Tagebuch. „Computer, Genetik, Satelliten, Laser und so weiter: Die Rolle des Bildermachers muss daher heute anders betrachtet werden als vor hundert Jahren.“
Als Künstler hingegen steht Haring in der Tradition von Hieronymus Bosch, Francisco Goya und Pablo Picasso: Malen ist mehr als eine Behübschung der Welt. So unterhaltsam seine Motive scheinen mögen, je nach Kontext tragen die übereinanderkletternden Menschen, das krabbelnde Baby oder der bellende Hund unübersehbar Botschaften vor sich her. „Er kämpfte für das Individuum und gegen dessen Unterdrückung durch Diktatur, Rassismus, Kapitalismus und Drogensucht“, schreibt Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder im Vorwort des Katalogs zur umfangreichen Keith-Haring-Ausstellung „The Alphabet“. Und weiter: „Er setzte sich für die Beendigung der Apartheid in Südafrika ein; sein Engagement im Kampf gegen AIDS ist legendär. Er war eine jener Stimmen, die am lautesten vor den Gefahren eines Atomkriegs, der Zerstörung der Umwelt und zahllosen weiteren Bedrohungen der Menschheit und unseres Planeten warnten.“
Keith Haring supersozial. Legendär sind die vielen Workshops, die der bereits arrivierte Künstler mit Kindern auf der ganzen Welt abgehalten hat. „Wenn ich mit Kindern male“, meinte er einmal, „spüre ich eine Aufrichtigkeit, die ehrlich und unverfälscht ist.“ Die Schau „The Alphabet“ in der Albertina, die der systematischen Zeichensprache Keith Harings nachgeht, trägt dem Rechnung und bietet Führungen und Workshops für Kinder und Schulklassen an: Das Angebot reicht vom Strichmännchenzeichnen mit weißer Kreide auf schwarzem Grund über das Erstellen von knallbunten Gemeinschaftsarbeiten für das Klassenzimmer bis zur Verwandlung eines Ateliers in eine schillernde 80er-Jahre-Disco.
Zur Erinnerung: Mitte der 1980er-Jahre bemalte der Street-Art-Künstler den nackten Leib von Disco-Queen Grace Jones für das Video zu „I’m Not Perfect (But I’m Perfect for You)“.
Apropos perfekt: Dieter Buchhart, Kurator von „The Alphabet“, erwähnt in seinem Katalogbeitrag, wie sehr dessen Meisterschaft beim Zeichnen oder Malen jener von Jahrhundert-Künstler Pablo Picasso glich. Ohne offensichtliche Planung mit einer scheinbar beliebigen Linie beginnend, brachten beide ohne Zögern in einem Zug eine ausgewogene Komposition zu Papier.
Ganz so flott ging es bei der Zusammenstellung der hundert Exponate für „The Alphabet“ nicht zu. Wegen der vielen internationalen Leihgaben nahm die Vorbereitung für die große Keith Haring-Schau mehr als ein Jahr in Anspruch.
Keith Haring: Vom Hausmeister zum Malerstar
Er nahm sich als Person nie besonders wichtig: Haring sah sich als Glied in einer Kette von vielen unterschiedlichen Künstlern. Von Hieroglyphen der alten Ägypter über Graffiti-Skulpturen Jean Dubuffets (1901-1985) bis zum wilden Action Painting Jackson Pollocks (1912-1956) und Pablo Picassos (1881-1973) Tatendurst: Gleich mehrere Epochen der Kunstgeschichte beeinflussten den bescheidenen Zeichner und Maler.
Sein Vater war schuld. Er hatte bei seinen am 4. Mai 1958 in Reading, Pennsylvania, geborenen Sohn früh ein künstlerisches Talent entdeckt. Und gefördert. Er hatte ihn dazu ermutigt, nicht die von ihm so geliebten Micky Mäuse einfach nachzuzeichnen. Sondern eigene Comicfiguren zu entwerfen.
Der Grundstein also war in seiner Heimatstadt und in einem Hausmeisterjob am Pittsburger Center for the Arts gelegt, den Rest besorgte der unaufhaltsame Energiestrom der Metropole New York. Als Haring dort 1978 landete, war Warhols „Factory“ nach wie vor Epizentrum der Kunstszene. Aber schon buhlten auf Straßen, in der Musik und auf Wänden die neuen Kunstformen Graffiti, Rap und Street Art um Aufmerksamkeit.
1980 organisierte Haring Ausstellungen für die Künstler- und Partylocation Club 57 am St. Mark’s Place im East Village. 1982 hatte er seine erste Einzelausstellung in New York; im gleichen Jahr nahm er in Kassel an der documenta 7 teil. 1986 eröffnete er in SoHo in New York seinen ersten „Pop Shop“. 1988 erfuhr er von seiner Aids-Erkrankung. Am 16. Februar 1990 starb Keith Haring an den Folgen in New York.
Kommentare