"100 Missverständnisse": Ein jüdisches Museum in der Zwickmühle
Barbara Staudinger, seit dem Juli 2022 Nachfolgerin von Danielle Spera im Jüdischen Museum Wien (JMW), wollte ihre Direktionszeit mit einem Knaller beginnen – und für Debatten sorgen. Beides ist ihr gelungen. Doch heftiger, als von ihr intendiert. Denn mit der Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“, Ende November 2022 eröffnet, brachte sie jene gegen sich auf, die sie eigentlich zu ihren Mitstreitenden hatte zählen dürfen, darunter führende Köpfe der Jüdischen Kultusgemeinde.
Niemand wird abstreiten, dass es in Österreich Vorurteile gegenüber Juden und Jüdinnen gibt. In der optisch exzellent geglückten Ausstellung wird man aber vor allem mit Missverständnissen konfrontiert, von deren Existenz man gar nichts wusste. Man gewinnt sogar den Eindruck, dass manche erfunden wurden, um auf eine erkleckliche Zahl zu kommen.
Unhaltbare These
Ein Hauptproblem sind Behauptungen mit Absolutheitsanspruch, darunter „Alle Jüdinnen und Juden sind solidarisch untereinander“, „Alle Jüdinnen und Juden sind religiös“, „Alle Jüdinnen und Juden müssen sich an strenge Regeln halten“, „Alle Jüdinnen und Juden essen koscher“, „Alle Jüdinnen und Juden sind Opfer“. Diese Sätze, nun als Vorurteile einzementiert, lassen sich natürlich sehr einfach entkräften.
Doch dabei bleibt es nicht: Die unhaltbare These „Alle Juden sind kluge Denker bzw. Nobelpreisträger“ wird mit zehn Porträts, die Andy Warhol von Juden des 20. Jahrhunderts (Franz Kafka, Sigmund Freud, Albert Einstein etc.) geschaffen hat, untermauert. Warhol hat sich aber immer nur mit den Ikonen beschäftigt (von der Queen bis zu Elvis), nie mit den No-Names sonder Zahl, die es auch unter den Juden gibt.
Jede Menge Missverständnisse
Natürlich ist der Judenstern, also das Hexagramm, kein ausschließlich jüdisches Symbol (wer außer dem JMW behauptet das?), so wie das Hakenkreuz, also die Swastika, kein ausschließlich nationalsozialistisches Symbol ist. Und absurd ist die Behauptung „Nur Juden sind beschnitten“. Denn sie hätte die Ableitung „Alle beschnittenen US-Amerikaner und alle beschnittenen Pornodarsteller sind Juden“ zur Folge.
Nicht weniger töricht ist die Behauptung, dass man über den Holocaust keine Comics zeichnen dürfe: Bereits vor mehr als 30 Jahren erschien Art Spiegelmans „MAUS“. Und man darf sehr wohl schmunzeln – wie Roberto Benigni vor mehr als 25 Jahren mit seiner Tragikomödie „Das Leben ist schön“ bewies. Auch nicht gerade neu ist die Feststellung, dass die Kunst mitunter an die Grenzen des guten Geschmacks geht – wie Zbigniew Libera ebenfalls 1997 mit dem „Lego Concentration Camp Set“.
Es gibt allerdings im Zusammenhang mit der Shoah und dem Gedenken jede Menge Missverständnisse. Fast ausschließlich unter Juden. Ben Segenreich, ehemaliger Israel-Korrespondent für den ORF, erregte sich über einen erlegten Hitler als Kaminvorleger, mit dem das Einhalt gebietende „Zahn um Zahn“ (statt ausufernde Rache) illustriert wird.
Er und viele weitere Juden, darunter Holocaust-Überlebende, stoßen sich auch am Selbstporträt von Alan Schechner als Buchenwald-Häftling mit einer Dose „Diet Coke“ in der Hand (Fotomontage aus 1993) oder am Video von Jane Korman (aus 2009), in dem sie zusammen mit ihrem Vater Adolek Kohn, einem Auschwitz-Überlebenden, und dessen Enkelkindern zu Gloria Gaynors „I Will Survive“ vor dem Tor des Vernichtungslagers („Arbeit macht frei“) abtanzt.
"Verletzend, ja unerträglich"
„Für viele Jüdinnen und Juden ist so etwas verletzend, ja unerträglich“, schrieb Segenreich in der Presse. Seiner Meinung schlossen sich etliche an, Paul Lendvai plädierte gar fürs Zusperren. Zuletzt forderte Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, in einem Brief, der nun auf Facebook zirkuliert, von Staudinger „mehr Sensibilität“ ein – sowie eine „dringend erforderliche, öffentliche Erklärung“. Es brauche „Konsequenzen“.
Staudinger wurde von jüdischer Seite auch vorgeworfen, den Staat Israel angegriffen zu haben. Und zwar in Zusammenhang mit dem angeblichen Missverständnis „Jüdinnen und Juden dürfen Israel nicht kritisieren“. Denn die „zionistische Expansionspolitik“ bleibe, so ist im Katalogtext von Kuratorin Caitlin Gura-Redl zu lesen, „auch im innerjüdischen Diskurs nicht unumstritten“. Doch darüber zu debattieren, geht wohl zu weit: Für Segenreich passt die Terminologie „auf eine Kundgebung der antijüdischen Terrorgruppe Hamas“, wie er schrieb, aber „nicht in ein jüdisches Museum in Wien“.
Schadensbegrenzung im Jüdischen Museum Wien
Die Direktorin reagierte sogleich: Sie ließ den diesbezüglichen Saaltext abändern. Es gab zudem noch zwei weitere Umformulierungen. Und weil der Staat Israel heuer sein 75-jähriges Bestehen feiert, zeigt Staudinger ab 22. Februar in der Dorotheergasse die partizipative Installation „Happy Birthday Israel!“: Besucher dürfen Glückwünsche an die Wände schreiben. „Unpassende Kommentare“ – von wem auch immer – werden überklebt werden. Womit unmissverständlich klar ist: „Jüdinnen und Juden dürfen Israel nicht kritisieren.“
Die Schau „100 Missverständnisse“ läuft bis 4. Juni. Danach wollte sich das JMW der Frage widmen: „What colour are the Jews?“ In dieser Ausstellung soll es nicht nur um diverse Hautfarben, sondern auch um Kolonialismus gehen: „Das wird spannend!“, hatte Staudinger gegenüber dem KURIER gemeint. Nun verschob sie die Schau auf unbestimmt: „Das Konzept ist noch nicht ausgereift.“
Staudinger, u. a. mit der Stimme von Ariel Muzicant zur Direktorin bestellt, befindet sich in einer misslichen Situation: Sie entzweite die IKG – und befindet sich nun in deren Zwickmühle. Ein Interview, in der Staudinger zu den Vorwürfen Stellung nimmt, lesen Sie demnächst.
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