Namenlos

Kabul 2021 und "Intolleranza 1960": Es sind die Namenlosen, deren Leid so leicht ausgeblendet, verdrängt und vergessen wird.
Birgit Braunrath

Birgit Braunrath

Namenloses Leid ist das schlimmste Leid, weil es dafür keine Worte gibt. Namenlos. Das bedeutet „unermesslich, unsäglich, unvorstellbar“. Namenlos kann aber auch heißen, dass diejenigen, die leiden, keinen Namen haben, kein Gesicht, keine Geschichte – und es daher leicht fällt, sie zu übersehen, sie zu verdrängen, sie zu vergessen.

Kein Zufall also, dass die Hauptfigur in Luigi Nonos Oper „Intolleranza 1960“, die am Sonntag in der Felsenreitschule Premiere hatte, „ein Migrant“ ist, ein namenloser Migrant, der versucht, sich nach harter Bergwerksarbeit in seine alte Heimat durchzuschlagen. Dabei trifft er auf Verleumdung, Folter, Straflager und auf eine Flutkatastrophe, dort, wo er einst lebte. Er findet nicht heim, sondern den Tod.

Ist es ebenfalls kein Zufall, dass diese Tragödie über die Bühne ging, als sich gerade in Kabul Hunderttausende Namenlose versteckten oder zu flüchten versuchten? Der Regisseur der Oper hatte eine verstörende Inszenierung angekündigt, „wie ein Faustschlag ins Gesicht“. Aber die reale Welt hat  zum noch härteren Faustschlag gegen die Namenlosen ausgeholt.

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