Wo das Warten an der Grenze zur Identität gehört
Haris konnte es nicht packen. "Was, ihr fahrt schon am 30. zurück, noch vor Silvester?!", schrie mir mein Jugendfreund in der vollen Bar ins Ohr. Sein Unverständnis darüber, dass ich unsere Heimatstadt einen Tag vor der "verrücktesten Nacht des Jahres" (so bezeichnet man am Balkan Silvester, Anm.) wieder verlasse, wischte ich mit einem Satz weg.
"Ich kann das meinen Kindern nicht mehr antun, dass sie an der Grenze aufwachsen", antwortete ich und schaute ihm wehmütig in die vom Slibowitz glasigen Augen. Kurz darauf brachen wir in lautes Gelächter aus, stießen an und erzählten uns - abermals - Anekdoten von der Grenze.
Wo die EU den Vorhang zugezogen hat
Einen Tag später saß die Familie Odobašić frohen Mutes im Auto und fuhr von Bosnien Richtung Wien. Die meisten Leute werden erst nach Silvester wieder zurück in ihre neue Heimaten in Westeuropa fahren, dachten wir. Kurz vor der Grenze zu Kroatien stellten wir fest, wie sehr wir uns getäuscht hatten. So wie wir dachten nämlich zig andere.
Also reihten wir uns in die kilometerlange Autoschlange und stellten uns auf weitere Stunden des sinnlosen und zermürbenden Wartens an einem der Grenzübergänge ein, wie so häufig zuvor. Denn das gehört zum Leben jener, die von dort stammen, wo die EU den Vorhang zugezogen und Grenzen gezogen hat.
Comeback der Grenzen
"Was für eine Grenze?", fragte mich vor zehn Jahren ungläubig unsere deutsche Freundin Nicola, nachdem ich ihr von einer unserer unzähligen mühsamen Balkan-Rückreisen erzählt hatte. Dieser Begriff ist ihr in ihrer Welt, die sich im Westen Europas abspielt, komplett entglitten. Allerdings dürfte sich das spätestens seit dem Jahr 2015 und Corona geändert haben.
Still und heimlich feierten die Grenzen in den letzten Jahren ein Comeback. Und während man sich im Westen Europas noch daran gewöhnen muss, gehören sie am Balkan zur Identität. Schließlich wächst man dort ja quasi an der Grenze auf.
Kommentare