Johannas Fest: Weihnachten ohne Keks und Lametta

Der 24. Dezember ist derart mit Klischees und Erwartungshaltungen behaftet, dass Singles und Angehörige von „Nicht-Bilderbuch-Familien“ schon im Vorfeld Versagensängste plagen.
Johanna Zugmann

Johanna Zugmann

Was für die meisten Kinder der am heißesten ersehnte Abend des Jahres ist, bedeutet für manchen Erwachsenen dräuendes Unheil. Der 24. Dezember ist derart mit Klischees und Erwartungshaltungen behaftet, dass Singles und Angehörige von „Nicht-Bilderbuch-Familien“ schon im Vorfeld Versagensängste plagen. Wer nicht in trauter Harmonie mit den Seinen lebt, kann die seelischen Ambivalenzen, die zugefügten oder erlittenen Kränkungen nicht unter noch so viel glitzerndes Lametta, köstlichen Keksduft oder noch so große Berge traumhaft verpackter Geschenke kehren.

Kerzenlicht, Festtagsbraten, Bescherung, gemeinsames Besingen des Tannenbaums: So muss Weihnachten alle Jahre wieder sein. Oder so sollte es zumindest sein. Fixe Rituale sind ein Auffangnetz in einer immer volatileren Welt, die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft eine Bastion in unsicheren Zeiten.

Wo es aber schon das ganze Jahr hindurch kriselt, lässt sich am Heiligen Abend auch keine Idylle herbeiheucheln. Harmonie auf Knopfdruck unter zerstrittenen Verwandten wird noch von keinem Lieferservice angeboten.

Oh Palmenbaum!

Marta und Helmut treten zwei Tage vor dem Heiligen Abend die Flucht in warme Länder an. Wenn das Flugzeug Richtung Südafrika, Hawaii oder Brasilien abhebt, lassen sie ihre Fluchtgründe hinter sich. Am Zielort zelebrieren sie Weihnachten unter dem Palmenbaum, auf dem Festtagsbuffet finden sich Meeresfrüchte statt Gans mit Rotkraut, Maroni und Bratäpfeln, statt Blockflötenklängen gibt das Rauschen des Ozeans den Ton an.

Auch Susanne, die Unternehmerin, die den Vater ihres inzwischen erwachsenen Sohnes nie geheiratet hat und auch nie mit diesem zusammenlebte, zieht es vor, Weihnachten jenseits der rot-weiß-roten Grenzen zu zelebrieren: „Ich habe keine Lust, mir Jahr für Jahr von meiner Schwester und deren spießiger Kleinfamilie vorführen zu lassen, wie mustergültige Idylle zu sein hat.“

Dem vor vier Jahren verwitweten Alexander nehmen die beiden studierenden Töchter übel, dass er inzwischen eine neue Beziehung eingegangen ist. Auch wenn er das Familienoberhaupt ist, fügt sich der Mediziner dem Bannspruch „Die kommt uns nicht ins Haus!“ des Nachwuchses. Statt in seinem bildschön restaurierten Bauernhof im Salzkammergut verbringt er die Weihnachtsferien mit seiner neuen Partnerin Marianne in der Schweiz. Unter dem Thema „The Christmas Paradox“ haben zehn Kunstschaffende je ein Zimmer in einem Zürcher Hotel in eine buchbare Kunstwelt verwandelt, die dem weihnachtlichen Mainstream den Kampf ansagt.

„So wie es einmal war, wird es nie mehr“, erläutert Marta und meint damit die Beziehung zu ihrem engsten Verwandten, der sie zutiefst enttäuscht hat. Der innigst geliebte Sohn ihres Bruders hat heuer unmissverständlich gezeigt, dass hinter seiner engen Beziehung zur Tante mehr Berechnung als Liebe steckt. Seit er unverschämt eine frühzeitige Überschreibung ihrer Liegenschaften forderte, ist die kinderlose Verwandte vor den Kopf gestoßen.

„Weihnachten ist für viele Menschen zugleich ein Sehnsuchtsort, eine aus Kindheitserinnerungen gespeiste, idealisierte Welt, deren Wegfall schmerzlich berührt“, konstatierte der deutsche Philosoph Alexander Grau und resümiert: „Es geht um Geborgenheit, Herkunft und Erinnerung.“ – All das lässt sich leider weder neu erfinden, noch im Warenhaus kaufen.

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