Johannas Fest: Bitte ganz schön bitter

Speist man in Gesellschaft reflektierter Zeitgenossen, wird auch das Tischgespräch zum Genuss für den Geist.
Johanna Zugmann

Johanna Zugmann

Vergangenen Samstag zelebrierten wir gemeinsam mit zwei weiteren Paaren das Frühlingserwachen. Unsere Freundinnen und Freunde sind bekennende Genießer, hervorragende Köche, Gastgeber und ambitionierte Urban-Farmer. Wir trafen einander beim Jungpflanzenmarkt der „City Farm“ im Wiener Augarten, um uns dort mit Raritäten für unsere Beete beziehungsweise Balkontöpfe einzudecken.

Das gesunde saisonale Angebot umfasste bunte Salate, Brokkoli, Kohlrabi, Mangold und Knollenfenchel, Spinat, Zuckererbsen und Dicke Bohnen sowie alle erdenklichen Küchenkräuter. Der Augenschmaus war perfekt, die Vorfreude auf die Gaumenfreuden, die uns unsere Einkäufe später bereiten würden, groß.

Zeitnahen Genuss verhieß dagegen Elkes Frage, ob wir Lust zu einem ganz spontanen Mittagessen bei ihr und Marietta an der Alten Donau hätten. – Was für eine Frage? Ein Besuch in Mariettas „Garten Eden“ mit Blick auf das derzeit noch glasklare Wasser ist allemal Labsal für die Seele. Ein mächtiger Feigenbaum, Palmen, ein riesiger Rosmarinbusch und Zitrusfrüchte sorgen für mediterranes Flair in Kaisermühlen. Hinzu kommt das auf angemieteten Hochbeeten selbst gezogene Gemüse, das Elke haubenreif verkocht. Das zu erwartende Mittagessen hätte allerdings nicht nur einen bitteren Beigeschmack, sondern bitter sei dessen Thema, kündigte die Herdkünstlerin an.

Genuss-Scham

Als Ouvertüre zum mehrgängigen Mittagessen kredenzten unsere Gastgeberinnen Grünkohl-Chips und ein Glas Wermut. Vor der Bärlauchsuppe gab es Chicorée-Salat mit knusprig frittierten Rhabarber-Knospen aus der Vorjahresernte. Der Hauptgang – Lammkoteletts – kam mit im Rohr geschmorten Endivien und Radicchio zu Tisch, als Dessert gab es eine mit Cinzano „gewürzte“ Grapefruit-Creme.

„Bitter ist jetzt auch bei uns angekommen und unter Gourmets sehr gefragt“, erläuterte Marietta. Bitter tut dem Körper gut, miteinander eine Mahlzeit einzunehmen, der Seele.

Speist man in Gesellschaft reflektierter Zeitgenossen, wird auch das Tischgespräch zum Genuss für den Geist. – Nach anfänglichem Geplauder über die schönen Dinge des Lebens, stellten wir uns plötzlich die Frage, ob man in unseren so finsteren Zeiten überhaupt noch genießen darf.

Elke holte aus dem Haus einen Artikel, den sie vor Kurzem in einer Schweizer Tageszeitung gelesen hat. Danach würden Rechtfertigungen für alles, was Spaß und Genuss bereitet, schon ein prekäres Ausmaß annehmen. Auf Instagram überpurzelten sich Influencer in Betroffenheitsbekundungen. Zeitgenossen zögerten, Fotos vom Skiurlaub oder vom Kurztrip nach Venedig zu posten. Nach Flugscham, dem Unwort aus dem Jahr 2019, mache sich seit Kriegsausbruch in unseren friedlichen Wohlstandsländern Genussscham breit.

– Ein Phänomen, das auch wir beobachtet haben. Mitgefühl und Mithilfe jeweils im Rahmen der persönlichen Möglichkeiten – von organisatorischer Unterstützung karitativer Einrichtungen über Spenden bis hin zur Unterbringung Geflüchteter – sind angezeigt, waren wir uns bei unserem Mittagessen einig. Mit schlechtem Gewissen zu genießen und Betroffenheitsrekorde aufzustellen hingegen, macht niemanden satt und schafft auch keinen Frieden.

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