Chaos de Luxe: Good luck, Gertrude
Letztes Jahr wollte ich am Neujahrstag Helfen und Abenteuer im Duett tanzen lassen. Ein paar Wochen zuvor hatte ich einen dicken Brief in einer mustergültig schönen Handschrift in meinem Redaktionspostfach gefunden. In makellosem Deutsch schilderte mir eine Frau (nennen wir sie Gertrude) die Via Dolorosa ihrer Obdachlosigkeit. Jetzt lebe sie in einem Bretterverschlag am Donau-Ufer. Sie habe mit jeglichem Glauben an diese Welt abgeschlossen und über ihre Talfahrt ein Manuskript verfasst.
Die Sozialromantikerin in mir dachte sofort, möglicherweise schlummere hier ein literarisches Juwel (Marke Genet oder Bukowski) und es bräuchte nur ein paar kleine Schubse, damit sie aus ihrem Elend in die Welt schwebe, die so mit einer neuen Erzählpranke beglückt werde. Nicht keimfrei, sondern aus der brodelnden Brutalität der Authentizität. Blöd den Radetzkymarsch an Gulaschsuppe mitklatschen, kann ja wirklich jeder Trottel am Neujahrstag. Ich dachte mir, wenn man sein Jahr so beginnt, dann ist das ein guter Auftakt. Der Wind pfiff, aber es machte Gertrude nichts aus. Ihr Gesicht war fein gezeichnet, ihr Fahrrad dicht mit Plastiksackerln behängt. Wir plauderten uns ein wenig warm, ich versuchte ihr Leid in mir aufzunehmen. Klappte nicht. Irgendwann schrie sie auf mich schrill wie ein aufgebrachter Vogel ein: „Was hast denn du für eine Ahnung, ha, ha?“ Sie blieb so verstört und verstörend und ich dachte mir: Wie naiv und arrogant von mir! Mit ein bisschen Linzer Torte und etwas Wohlwollen zu glauben, einen solchen armen Menschen wieder auf die Spur zu bringen.
Die Geschichte hat kein Happy End: Je aufgebrachter sie wurde, desto größer meine Angst, dass sie ihren Hass auf die Welt an mir ablassen wolle. Ich floh, zurück in meine Komfortzone, voller Schamgefühl, und habe seither nicht aufgehört zu denken, wie es ihr wohl ergangen sein mag. Sorry, diese Geschichte hat keine Pointe.
Good Luck, Gertrude!
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